Unter dem Titel „Späte Aufarbeitung. Lebenswelten und Verfolgung von LSBTTIQ-Menschen im deutschen Südwesten“ kamen Ende Juni 2016 in Bad Urach an der Schwäbischen Alb Geschichtsaktivist_innen, Historiker_innen, Pädagog_innen und Vertreter_innen aus Politik und Verwaltung zusammen, um den Stand der Aufarbeitung zu diskutieren, aktuelle Projekte vorzustellen und zukünftige Richtungen von historischer Forschung und Vermittlung zu entwickeln. Eingeladen zur Tagung hatte ein breites Bündnis von Akteur_innen auf Landes- und Bundesebene: die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LPB), die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH), die Universität Stuttgart, das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg. Die zweitägige Konferenz zeigte einerseits die vielversprechenden Anfänge von Aufarbeitung und Erforschung der Geschichte von lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren (LSBTTIQ) Menschen in Baden-Württemberg. Gleichzeitig verdeutlichte sie die eklatanten Forschungslücken und die Dringlichkeit der Aufarbeitung im Angesicht des hohen Alters der Zeitzeug_innen, insbesondere der nach §175 verurteilten Männer.
BRIGITTE LÖSCH (Stuttgart), queerpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion der Grünen und bis vor kurzem Vizepräsidentin des Landtags, eröffnete die Tagung. In ihrem Grußwort erläuterte sie den Anlass der Veranstaltung: den Beschluss des Landtags, die Verfolgung homosexueller Männer aufzuarbeiten und dem vom Staat begangenen Unrecht eine Entschuldigung, Rehabilitation und historische Aufarbeitung entgegenzusetzen.
MICHAEL SCHWARTZ (Berlin) resümierte in seinem Vortrag diskursive und personelle Kontinuitäten der Verfolgung homosexueller Männer vom Kaiserreich über Weimar, den Nationalsozialismus bis in die beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Dass der Wechsel der politischen Systeme nicht mit einem veränderten Umgang mit homosexuellen Männern einherging, demonstrierte Schwartz anhand einer Reihe von Beispielen, wobei er dem Umgang mit Homosexualität im deutschen Militär besondere Aufmerksamkeit widmete. Dieses sei einerseits eine „Bastion der Heteronormativität und der Homophobie“ gewesen, andererseits hätten auch im Militär Freiräume bestanden, die freilich immer prekär geblieben seien. Er verwies darüber hinaus auf die sozial differenzierte Verfolgung homosexueller Männer. Das im Titel versprochene „über die Verfolgung hinaus“ kam im Vortrag leider sehr kurz. So wäre es wünschenswert gewesen, die im Vortragstitel angesprochene „Vielfalt von Lebenssituationen“ durch alltagsgeschichtliche Ansätze stärker zu berücksichtigen und den Blick auszuweiten auf „nicht-heterosexuelle Menschen“, die sich nicht als homosexuelle Männer definierten. Eindrücklich konnte der Vortrag jedoch zeigen, dass die Verfolgung homosexueller Männer nicht an eine bestimmte politische Weltanschauung gebunden war, sei Homophobie doch von rechts wie von links und durch verschiedene politische Systeme hindurch als politische Waffe eingesetzt worden.
KIRSTEN PLÖTZ (Hannover) stellte ein aktuelles Forschungsprojekt zur Diskriminierung lesbisch lebender Mütter in der BRD von den 1970er bis 1990er Jahren vor. Darin analysiert sie, welche Rolle lesbische Beziehungen der Mütter in Gerichtsverfahren zum Entzug des Sorgerechts nach Ehescheidungen spielten. Sie stellte zunächst fest, dass die Anliegen lesbischer Mütter weder in der Frauenbewegung noch in der schwul-lesbischen Bewegung Gehör gefunden hätten. Dabei hätten lesbische Mütter dringend einer Lobby bedurft, wurde ihnen doch über einen Zeitraum von mindestens 20 Jahren aufgrund ihrer lesbischen Lebensweise das Sorgerecht entzogen, so Plötz. Erst seit Mitte der 1990er-Jahre hätten deutsche Familiengerichte angefangen, die Existenz lesbisch oder schwul lebender Eltern anzuerkennen. Dabei habe das EU-Parlament bereits 1981 empfohlen, homosexuelle Elternteile nicht zu diskriminieren. Die entscheidenden Impulse für den Abbau der Diskriminierung lesbischer Mütter seien von außerhalb der BRD gekommen, resümierte sie. Auch die deutlich größere Verbreitung und Akzeptanz lesbischer Mütter in der DDR habe möglicherweise zur veränderten Rechtspraxis seit Mitte der 1990er Jahre beigetragen. Ihr Vortrag endete mit einem Plädoyer dafür, die Geschichte der Diskriminierung homosexueller Menschen nicht nur anhand des §175 zu untersuchen.
MARTIN CÜPPERS (Ludwigsburg) stellte aktuelle Forschungsansätze aus Baden-Württemberg vor. Als Mitinitiator des Forschungsprojekts „LSBTTIQ in Baden und Württemberg“, das LSBTTIQ-Geschichte im Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik auf regionaler Ebene untersucht, machte er die vielen Ebenen der Forschung deutlich: Lebenswelten, Alltagsgeschichte und individuelle Abwehr- und Widerstandsmuster der Betroffenen, die Frage nach den Tätern bei Polizei und Justiz und nach der Rolle von Institutionen wie Kirche, Medizin und Psychiatrie, sowie die Kontinuitäten und Brüche der Repression und Verfolgung vom Nationalsozialismus in die Bundesrepublik. An Quellen verschiedenster Gattung – Gerichtsurteile, Briefe, Homosexuellenzeitschriften, Kontaktanzeigen und Zeitzeug_inneninterviews – konnte Cüppers die Vielfalt des Forschungsmaterials aufzeigen. Die anschließende Diskussion machte deutlich, dass insbesondere die Bereiche lesbische,Trans*- und Inter*-Geschichte für Baden-Württemberg wichtige Forschungsdesiderate darstellen.
DANIEL BARANOWSKI (Berlin) wählte in seinem Vortrag einen poetischen Zugang, um die Erinnerungsarbeit in den Oral-History-Interviews der BMH vorzustellen. In dem Projekt erzählen vor 1969 sozialisierte homo- und transsexuelle Menschen ihr Leben. Ausgehend von dem Pet-Shop-Boys-Song „Odd Man Out“, in dem ein schwuler Mann mit dem heutigen Wissensstand die homophobe Vergangenheit aus dem Jenseits beschreibt, erläuterte er theoretische Grundlagen und Praxis dieser spezifischen Art queerer Geschichtsschreibung. Das Projekt der BMH gehe von Geoffrey Hartmans Verständnis des Interviews als „Bündnis für Zeugenschaft“ aus. Die Interviewpraxis kombiniere eine therapeutische Gesprächsführung und ein biographisch-narratives Vorgehen. Nach dem Interview werde das Gespräch analytisch erschlossen, um nach Dorothee Wierling das „subjektive Relevanzsystem“ der Interviewten herauszuarbeiten. Die Interviews fielen so in zwei Genre-Kategorien, sie seien zum einen historische Zeugnisse, zum anderen literarische Texte, und ihre Entschlüsselung erfordere daher einen vielfältigen methodischen Werkzeugkasten. Baranowskis Vortrag, der über Musik und Lyrik die Zuhörer_innen nicht nur kognitiv, sondern auch emotional ansprach, überzeugte als kongeniale Vermittlung der Methode des Oral History Interviews, die Historiker_innen im Idealfall eine Annäherung an emotionales und somatisches Wissen ermöglicht.
Eine Perspektive auf die Aufarbeitung von LSBTTIQ-Geschichte von Seiten bürgerschaftlich engagierter außeruniversitärer Forscher_innen gaben RALF BOGEN (Stuttgart), KIM SCHICKLANG (Stuttgart) und CLAUDIA WEINSCHENK (Stuttgart). Sie zeigten auf, dass die LSBTTIQ-Emanzipationsbewegung gleichsam als Motor der Forschung fungierte und thematisierten die Problemen und Grenzen der außeruniversitären Forschung: Die mangelnde Finanzierung, die Kapazitätsgrenzen der Forschenden und die defizitäre Zusammenarbeit mit staatlichen und universitären Stellen wurden hier benannt, aber auch interne Berührungsängste der Bewegung, so etwa bei Schwulen, Lesben und Bisexuellen gegenüber Trans* und Inter*. Ein derzeit entstehendes Forschungsprojekt der drei Referent_innen soll diese Schwierigkeiten aufnehmen und produktiv wenden: Geplant ist eine Homepage, die mit einer digitalen Landkarte Baden-Württembergs die Biographien und Schicksale männlicher Opfer der NS- Homosexuellenverfolgung darstellen, die (Un-)Sichtbarkeit lesbischer Frauen diskutieren und grundsätzliche Überlegungen zum Umgang mit geschlechtlichen Minderheiten in der Forschung und Erinnerung anstellen soll.
Weinschenk, Schicklang und Bogen forderten, das Wissen der sogenannten Betroffenen ernst zu nehmen und sie als Wissensträger_inen und Expert_innen zu stärken. Mit ihren Überlegungen, wie die Tagung genutzt werden könne, um eine zukünftige bessere Zusammenarbeit von LSBTTIQ*-Community, Universität und staatlichen Stellen zu erreichen, wiesen sie die Richtung für die weiteren Diskussionen der Fachtagung.
Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Vielfalt als Bereicherung“ schloss den ersten Tag der Tagung ab. Unter Moderation des SWR-Redakteurs WOLFGANG NIESS (Stuttgart) diskutierten MARION RÖMMELE (Stuttgart) vom Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg, die Stadträtin und Besitzerin des Stuttgarter Kings-Club LAURA HALDING-HOPPENHEIT (Stuttgart), STEFAN KAUFMANN (Stuttgart), der für die CDU im Bundestag sitzt, der Stuttgarter Stadtdekan der Evangelischen Kirche SØREN SCHWESIG (Stuttgart) und der Vorstandsvorsitzende der türkischen Gemeinde Baden-Württemberg GÖKAY SOFUGOLU (Stuttgart) über Akzeptanz und Homophobie in der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Diskutant_innen zeigten ein Spannungsfeld von Emanzipation und Roll-Back in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen auf – in der evangelischen und katholischen Kirche, innerhalb der türkischen Gemeinde, in Parteien oder in Schulen, aber auch an Orten der homosexuellen Subkultur. Die Diskussion erhielt ihre Dynamik nicht zuletzt durch persönliche Erfahrungsberichte, so etwa über den schwierigen Weg, sich als schwules Paar in der katholischen Kirche trauen zu lassen. Betont wurde abschließend, dass die vielzitierte Vielfalt allein nicht das finale Ziel der Emanzipation sei. Vielmehr sei der Akzent auf den Prozess, auf die bewusste Entscheidung für diese Vielfalt zu legen – und darauf, das Anders-Sein Anderer auch auszuhalten.
Im zweiten Teil der Tagung erarbeiteten die Teilnehmer_innen in drei Arbeitsgruppen konkrete Problemfelder und Handlungsanregungen. MARTIN LÜCKE (Berlin) und HOLGER HENZLER-HÜBNER (Stuttgart) stellten zunächst existierende Initiativen für die Vermittlung queerer Geschichte und die Schaffung von Schulen ohne Diskriminierung vor: das Berliner Projekt „Queer History Month“, sowie die Initiativen „Schule ohne Rassismus“ und „Schule der Vielfalt“, beide in Nordrhein-Westfalen begonnen, aber inzwischen bundesweit verbreitet. Im zweiten Teil des Workshops verteilten sich die Teilnehmenden in kleinere Arbeitsgruppen. Hier erwies es sich als glückliches Resultat der klugen Tagungsorganisation, dass Vertreter_innen aus Schulen und Landesregierung zusammengebracht wurden. Eine Vertreterin des Staatlichen Schulamts Stuttgart signalisierte, dass dort die Stelle einer_s zentralen Ansprechpartner_in geschaffen werden könne, die_der die Schulen sowohl zu Unterrichtsinhalten als auch zur Schaffung einer LSBTTIQ-freundlichen Schulatmosphäre berate und unterstütze. Daraufhin entwickelten junge Lehrer_innen und Referandar_innen aus der Region gemeinsam mit Vertreter_innen einer Selbsthilfegruppe „Eltern homosexueller Kinder“ und der freien Jugendarbeit eine umfangreiche Stellenbeschreibung, die hoffentlich bald umgesetzt werden kann. Vertreter_innen aus der Gedenkstättenarbeit, der LPB, der BMH und der Wissenschaft überlegten, wie die Gedenkstätten im Land trotz schwieriger Quellenlage LSBTTIQ-Menschen in ihr Gedenken einschließen können. Weitere Untergruppen entwarfen anhand von Unterrichtsmaterialien des „Queer History Month“ Unterrichtsstunden zum Thema „§175“ und „Harem“.
Eine zweite Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit juristischen und ethischen Problemen in der Erforschung von LSBTTIQ-Geschichte. Aufbauend auf Inputvorträgen von ELKE KOCH (Ludwigsburg), MICHAEL SCHOLZ (Potsdam) und MATHIS FALK (Freiburg) wurde die Zusammenarbeit von Forscher_innen und Archivar_innen in der Erschließung und Recherche von Quellenmaterial diskutiert. Ausgehend von der Schwierigkeit Spuren lesbischer und transgeschlechtlicher Menschen im Archiv zu finden, erarbeiteten die Teilnehmer_innen Strategien der vertieften thematischen Erschließung von Beständen und der verbesserten Kommunikation zwischen Forscher_innen. Konsens bestand bei allen Beteiligten, dass diese einmalige Chance der Zusammenarbeit von Universität, außeruniversitärer Forschung und Archiven unbedingt produktiv genutzt werden müsse. Der zweite Schwerpunkt der Arbeitsgruppe drehte sich um Persönlichkeitsrechte. Das Spannungsfeld zwischen der Praxis, homosexuellen Opfern der Strafjustiz einen Namen und damit auch ihre Würde zurück zu geben einerseits, und dem Schutz der Intimsphäre der Betroffenen andererseits, konnte durch eine Unterscheidung zwischen Gedenken und Geschichtsschreibung zumindest teilweise aufgelöst werden. Gedenken, so die Idee, gelte den individuellen Opfern und ihren Schicksalen. Hier sei auch eine Namensnennung angebracht. Demgegenüber sei die Forschung angehalten, Namen zu anonymisieren, um im Umgang mit den teilweise äußerst persönlichen Informationen, die in gewaltvollen Situationen polizeilicher Verhöre entstanden, nicht erneut die Intimsphäre der Opfer zu verletzen.
In der Arbeitsgruppe zur Rehabilitierung und Entschädigung von nach § 175 verfolgten Menschen sorgten PIERRE THIELBÖRGER (Bochum) und MANFRED BRUNS (Karlsruhe) mit einem Vortrag zu den juristischen Aspekten der Verfolgung für eine solide Diskussionsgrundlage. Zentral war dabei das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1957, das die Beibehaltung des Paragraphen in seiner Version von 1935 stützte. Die beiden Referenten thematisierten außerdem das Gutachten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2016, das einen verfassungsgemäßen Auftrag zur Rehabilitierung feststellt. Die Diskussionen bewegten sich um die Empfehlung des Sachverständigen für eine kollektive Entschädigungsleistung und die Auslassung der Urteile nach 1969 im Gutachten. Die Frage nach der Triebfeder der Verfolgung stellte eine Kontroverse dar: Kann die Homosexuellenverfolgung der Bundesrepublik als Kontinuität zum Nationalsozialismus verstanden werden, bei der „die Wut der Masse“ nach dem Holocaust eines neuen Ventils bedurfte? Oder war die Überbetonung von Sittlichkeit zur Abgrenzung von den Nationalsozialisten eine Ursache für die Verfolgung in den 1950ern und 1960er Jahren? Das Plenum erörterte, dass supranationalen Institutionen wie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Zukunft eine fundamentale Verantwortung bei der Etablierung von Minderheitenrechten zukommen werde und diskutierte die Frage, welche Implikationen sich aus der Verfolgung und deren schwerfälliger Aufarbeitung für den Umgang mit anderen Minderheiten ergeben. Abschließend schlussfolgerte das Plenum, dass die Notwendigkeit für die LSBTTIQ-Community bestehe, eine Strategie zur Forcierung einer angemessenen Rehabilitierung der Opfer zu entwickeln.
Das Potential der Tagung lag in ihrer breiten Zusammensetzung von Teilnehmer_innen aus LSBTTIQ-Emanzipationsbewegung, Archiven, Schulen, Universität und Politik und der gemeinsamen Diskussion über Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Zusammenarbeit. Das Verhältnis von universitärer und außeruniversitärer Forschung und die Kritik am Ausschluss der LSBTTIQ-Community und ihrer Expertise aus der universitären Forschung war dabei ein Diskussionsthema, das die gesamte Konferenz durchzog. Die Kritik am Androzentrismus der inhaltlichen Ausrichtung der Tagung machte deutlich, dass vor allem für den Bereich queerer, lesbischer, Trans*- und Inter*-Geschichte noch große Forschungslücken bestehen. Diese Perspektiven wurden aber nicht zuletzt durch ein engagiertes Auditorium immer wieder in die Beiträge und Arbeitsgruppen eingebracht. Durch die breite Aufstellung der Teilnehmer_innen, die vielen eingebrachten Perspektiven und die offene Diskussionsatmosphäre konnten sich vielversprechende Synergien entwickeln, die sicher noch über die Tagung hinaus wirken und die gemeinsame Erforschung von LSBTTIQ-Geschichte in Baden-Württemberg beflügeln werden.
Tagungsbericht von Andrea Rottmann, University of Michigan, und Nina Reusch, Universität Stuttgart, unter Mitarbeit von Benjamin Bauer, Universität Heidelberg.