Schräg sein, seltsam und verqueren – Queer und Queering
Liddy Bacroff alias Heinrich Eugen Habitz ist auf der anderen Rheinseite fast schon eine Legende. In Ludwigshafen. Hier wurde der_die spätere Wahlhamburger_in als Heinrich Habitz 1908 geboren. In Mannheim, auf der für ihn_sie anderen Rheinseite, wurde sie_er im Jahr 1929 nach § 175 RStGB verurteilt. Später ging er_sie nach Hamburg. Hier experimentierte sie_er mit ihrer_seiner Genderidentität, trat als Transvestit auf und verdiente als (damals noch nicht so genannte_r) Sexarbeiter_in ihren_seinen Lebensunterhalt. Liddy Bacroffs letzte Lebensstation war das KZ Mauthausen, wo er_sie 1943 von den Nazis ermordet wurde. Das Mannheimer theater oliv zeigt derzeit die Schauspiel-Collage „Will flirten, toben, schmeicheln – lasst mich, ich bin Liddy!“. Grundlage dieses Stücks sind persönliche Schriften und authentische Archivalien der Lebensgeschichte von Liddy Bacroff.
Szene aus „Will flirten, toben, schmeicheln – lasst mich, ich bin Liddy!“, theater oliv e.V. Mannheim. Foto: Kaja Krebaum
Können wir aus einer heutigen Perspektive, z. B. aus der Perspektive eine_r Historiker_in eigentlich einfach sagen, dass die Person Liddy Bacroff queer war? Oder z.B. Richard Moosdorf, Eleonore Behar und Toni Simon, denen wir hier schon einen Blogbeitrag bzw. ein Zeitzeugen-Interview eingeräumt haben? Können wir den englischen Begriff, der erst seit ungefähr 25 Jahren auch in den deutschen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat, einfach auf historische Personen im deutschen Südwesten und ihre Praktiken oder ihr Verhalten beziehen? Schon bei den Begriffen der „Lesbe“ oder des „Schwulen“ scheint genau das problematisch.
Obwohl der Begriff „schwul“ auch in Württemberg bereits in den 1920er Jahren als Selbstbezeichnung für gleichgeschlechtlichen Sex verwendet wurde – der aus Württemberg stammende Sexarbeiter Wilhelm S. spricht bereits 1925 von „schwule[n] Weibern“ und spricht davon, mit Männern „schwule verkehrt“ zu haben – ist der Begriff des Schwulen wie der der Lesbe tendenziell als eine Identitätsbezeichnung zu verstehen, die im Kontext der bundesdeutschen Schwulen-, Lesben- und Schwul-Lesbischen Emanzipationsbewegungen in den 1970er und 1980er Jahren Bedeutung erlangt. Diese Selbstbezeichnungen hatten u.a. den Vorteil, dass sie sich nicht mehr auf den Begriff der Homosexualität bezogen.
Vielfach wissen wir heute gar nicht mehr, dass der Begriff der „Homosexualität“ eigentlich einem medizinischen, sexualwissenschaftlichen Feld entstammt, das homosexuelle Praktiken gegenüber heterosexuellen Praktiken tendenziell als krankhaft und unnatürlich abwertete. Männer, die Männer begehrten, bezeichneten sich im deutschsprachigen Kontext vor 1970, z.B. in der Weimarer Republik, vielfach einfach als „Freunde“, Frauen, die Frauen begehrten, auch als „Freundinnen“. So hießen populäre Magazine der Zeit „Die Freundschaft“ und „Die Freundin“. Wenn wir historische Personen, die während der Weimarer Republik, der Zeit des NS-Terrors oder in der direkten Nachkriegszeit lebten, einfach als „lesbisch“ oder „schwul“ bezeichnen, stülpen wir ihnen dann nicht eine sexuelle Identität über, auf die sie sich zu ihren Lebzeiten vielleicht selbst gar nicht bezogen haben? Mehr noch, würden wir damit nicht Konzepte und Bezeichnungen verwenden, die damals so noch gar nicht existierten? Und geht damit nicht auch ein wichtiges Moment ihrer damaligen Selbst- und Sexualitätsentwürfe verloren?
Trifft das nicht in gewisser Hinsicht auch für den hippen Begriff „queer“ zu, wenn wir ihn auf historische Personen anwenden? Kaum ein_e Badener_in oder ein_e Württemberger_in wird sich damals – weder in der Weimarer Republik noch im NS oder in der direkten Nachkriegszeit – auf dieses aus dem englischen Sprachraum kommende spätere Selbstkonzept tatsächlich bezogen haben. Können wir historische Personen wie Liddy Bacroff, Eleonore Behar und Toni Simon also trotzdem als queer bezeichnen?
Queer bedeutet im Englischen „[…] adjektivisch so viel wie ‚seltsam, sonderbar, leicht verrückt‘, aber auch ‚gefälscht, fragwürdig‘; als Verb wird es gebraucht für ‚jemanden irreführen, etwas verderben oder verpfuschen‘[…].“[Hark 1993:103] Die Berliner Soziologin Sabine Hark erläuterte den Begriff vor fast 25 Jahren im Kontext deutschsprachiger Feministischer- und Geschlechter-Studien, als auch um die Arbeiten der „Queer-Thoretikerin“ Judith Butler heftige Kontroversen entbrannten.
Queer war in der englischen Sprache lange Zeit ein Schimpfwort. Ziel der Beleidigungen waren zumeist Personen, die den dominanten Normen von Sexualität (Heterosexualität) und/oder der Zwei-Geschlechter-Ordnung nicht entsprachen, also u.a. auch gleichgeschlechtlich begehrende Männer und Frauen, Personen mit androgyner Erscheinung, Intersexuelle, Transsexuelle, Transgender u.a.
Durch Aneignung des Wortes und durch die Selbstbezeichnung als „queer“ wurde aus dem Schimpfwort später ein positives, kämpferisches Selbstkonzept. Wie in der Aneignung und Umwendung des stigmatisierenden Rosa-Winkels der KZ-Häftlinge durch die Westdeutsche und US-amerikanische Schwulenbewegung und durch die HIV-Positiven-Bewegung ACT-UP und die Künstlergruppe Gran Fury in den USA wird aus einem abwertenden, beschimpfenden „seltsam“ und „schräg“ durch Aneignung ein selbstbewusstes „queer“! Beispiel einer solchen Aneignung ist auch die dem Punkrock und Hardcore nahestehende Queercore-Bewegung, in der sich „queer“ mit einer weitreichenden Gesellschaftskritik verbindet. Inzwischen ist „queer“ auch hier im deutschen Südwesten längst gebräuchlich, denken wir an den Sportverein Queerfeldein in Freiburg und das Pridepictures – Queer Film Festival in Karlsruhe. Während der Begriff „queer“ in der englischen Sprache durch die Aneignung des Schimpfwortes immer noch brisant ist, ist diese politische Geschichte der Aneignung im deutschsprachigen Kontext auf den ersten Blick verloren gegangen. „Queer“ erscheint vielleicht deshalb auch für Menschen, die sich Begriffe wie „lesbisch“ und „schwul“ noch schmerzhaft aneignen mussten, als unpolitisch. Aber was hat das jetzt mit den historischen Personen wie Liddy Bacroff, Eleonore Behar, Richard Moosdorf oder Toni Simon zu tun?
Als englisches Verb verweist „to queer“ auf Praktiken, die die dominante Ordnung von Geschlecht und Sexualität durcheinanderbringen oder unterwandern. Gemeint ist hier „queering“ im Sinne von „irritieren“ oder „verqueren“. Es meint also Praktiken, die unsere Vorstellung irritieren, dass es nur zwei natürliche Geschlechter – nur Männer und Frauen – gibt und dazu eine entsprechende, richtige, natürliche Form von Sexualität. Wird die Existenz von nur zwei Geschlechtern auch durch historische Personen wie Simon und Bacroff infrage gestellt, dann werden damit gleichzeitig auch bestehende, dominante Vorstellungen von Sexualität irritiert oder verquert, die diesem Denken in zwei Geschlechtern entsprechen. Auch Sexualität lässt sich damit nicht mehr in die engen „Schubladen“ von Hetero-, Homo- und Bisexualität zwängen. Identitäten werden zugleich vielfältiger und beweglicher. Damit wird die bestehende Geschlechter- und Sexualordnung, die „Weiblichkeit“ gegenüber „Männlichkeit“ abwertet und „Heterosexualität“ als einzige richtige Möglichkeit begreift, kräftig durcheinandergewürfelt. Queer oder queering wird damit auch zu einer politischen Praxis. Als Männer begehrender Mann ist auch der Zeitzeuge Richard Moosdorf, ebenso wie die Frauen begehrende, in Stuttgart geborene Eleonore Behar, Teil einer queeren Geschichte. Behars Geschichte verschränkt sich, wie Anna Hájková in unserem Blogbeitrag vom 27. Januar 2017 eindrücklich zeigt, mit der Geschichte der von den Nazis als „Geltungsjüdin“ verfolgten Frau, die nach der Befreiung nach Chile emigrierte. Queere Forschung beabsichtigt genau solche Verschränkungen mitzudenken. Genau deshalb wird „queer“ auch von einigen Menschen auch als Überbegriff für LSBTTIQ* verwendet.
Ob Liddy Bacroff, Eleonore Behar oder Toni Simon bewusst irritieren wollten oder ob sie es einfach getan haben, ob sie mit ihrer bloßen Existenz, ihrem Verhalten, ihren Selbstpraktiken und ihren Selbstinszenierungen bewusst oder unbewusst die Zwei-Geschlechter- und/ oder die bestehende Sexual-Ordnung in Frage stellten, spielt dabei keine Rolle. Schließlich ist nicht ihre mögliche bewusste Absicht zu verqueren für uns heute relevant, sondern dass sie es mit ihren mutigen Lebensentwürfen, mit kleinen Gesten, ihrem Verhalten und ihren Selbstpraktiken vielleicht einfach taten.
Verschränkt mit der Homosexuellenbewegung der Weimarer Republik, in der Zeit des NS-Terrors und nach 1945 gab es historische Personen, deren Selbstinszenierungen, Selbstpraktiken und Verhalten heute vielleicht als queer bezeichnet werden können. Die_der in Mannheim nach § 175 RStGB verurteilte Liddy Bacroff alias Heinrich Habitz, Eleonore Behar, Richard Moosdorf und der_die Stuttgarter_in Toni Simon waren vier von ihnen.
Gab es im deutschen Südwesten badische oder schwäbische Begriffe, die dem Begriff des „queer“ oder „queering“ nahekommen? Kennen Sie historische Begriffe, die im Dialekt für LSBTTIQ vielleicht eine Rolle gespielt haben? Sagen Sie es uns. Wir schreiben die Geschichte dazu.
Angucken:
- Das mit dem Grimme Online Award ausgezeichnete Hyperbole TV präsentiert in seiner Reihe „Frag ein Klischee“ das Video FRAG EINE QUEER PERSON: WAS HEISST „QUEER SEIN“ (2014)
- LIDDY BACROFF: WILL FLIRTEN, TOBEN, SCHMEICHELN. Ein Theaterabend um das Vermächtnis der Liddy Bacroff. Collage von Angelika Baumgartner und Boris Ben Siegel, theater oliv. Z.B. am 11.02.2017 im „Das Leben ist ein Dschungel“, Mannheim
Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf und speist sich aus folgende(r) Literatur u. Quellen
Butler, Judith (1991[1990]): Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikan. v. Katharina Menke (Ed. Suhrkamp, 1722). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Butler, Judith (1997 [1993]): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikan. v. Karin Wördemann (Edition Suhrkamp,1737). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hark, Sabine (1993): Queer Interventionen. In: Feministische Studien. Kritik der Kategorie Geschlecht. 11. Jg., 2/1993, S. 103–109.
Jagose, Annamarie (2001[1996]): Queer Theory. Eine Einführung. Berlin: Queerverlag.
Wolfersdorff, Volker: AIDS als Zäsur. In: Coming Out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung. Frankfurt a.M.: Campus, 2005, S. 73-73.
Rosenkranz, Bernhard; Bollmann, Ulf: Heinrich Habitz gen. „Liddy Bacroff“ *1908. URL: https://www.stolpersteine-hamburg.de/?MAIN_ID=7&BIO_ID=791, 01.02.2017.
Staatsarchiv Ludwigsburg: F 302 I Bü 794.
Weiterlesen:
Buche, Sylvia (2005): Neue Geschlechterkonstruktionen und (queere) subkulturelle Strömungen in der Weimarer Republik. In: Freiburger FrauenStudien. Nr. 17 (2005), S. 203-223.
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (2014) (Hg.): Forschung im Queerformat. Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Bielefeld: transcript.
Jagose, Annamarie (2001[1996]): Queer Theory. Eine Einführung. Berlin: Queerverlag.
Paul, Barbara; Tietz, Lüder (2016): Queer as … Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive. Bielefeld: transcript.