„Was mich angeht, ich werde als ganz ungebrochenes Exemplar der Gattung Mensch in die Grube steigen.“ Otto Hug (1905–1965), ein Lebensbild
von Raimund Wolfert, Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Berlin
Nach 1945 gelang es auf lange Zeit nicht, eine schlagkräftige und in sich geschlossene Bewegung gegen die antihomosexuelle Strafgesetzgebung in Deutschland aufzubauen und an die Verdienste der ersten deutschen Homosexuellen-Bewegung von vor 1933 anzuknüpfen. Ein Grund hierfür war das restaurative gesellschaftliche Klima, das hierzulande in der frühen Nachkriegszeit herrschte. Aber auch in den Kreisen, die ein zivilgesellschaftliches Engagement als politisches Mittel befördern wollten, standen einem wirkungsvollen Auftreten gegenüber institutionalisierten Entscheidungsträgern Uneinigkeiten im Wege. Bedauerlich ist etwa das Zerwürfnis zwischen dem Frankfurter Arzt Hans Giese (1920–1970), der sich 1949 daran machte, das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) Magnus Hirschfelds wieder aufleben zu lassen, und dem früheren Mitarbeiter Hirschfelds in eben diesem Komitee, dem „streitbaren Publizisten“ Kurt Hiller (1885–1972).1 Giese versuchte um 1950, Hiller als erfahrenen Aktivisten der homosexuellen Emanzipations-Bewegung in seine Unternehmungen gegen den Fortbestand des § 175 StGB einzubinden. Aufgrund divergierender Vorstellungen in Bezug auf Taktik und Ziele einer neu zu belebenden Bewegung kam es zwischen Hiller und Giese aber schon bald zu einem unwiderruflichen Bruch.2
Hiller, der in der frühen Nachkriegszeit aus seinem Londoner Exil heraus über ein riesiges Kontaktnetz an Intellektuellen im deutschsprachigen Raum – unter ihnen Schriftsteller, Publizisten, Ärzte, Juristen und Aktivisten – verfügte, stand dabei in Verbindung mit einer Reihe von Einzelpersönlichkeiten, die er für „befugt“ hielt, den „Kampf“ gegen die antihomosexuelle Gesetzgebung in Deutschland erfolgreich weiterzuführen. Eine dieser Persönlichkeiten war der frühere Bühler Studienrat Otto Hug (1905–1965), der sich in Hillers Augen nicht nur durch große Kenntnisse auf literarischem Gebiet, sondern auch durch „Kampfgeist“ auszeichnete.3 Bislang ist über den Lebensweg und das politische Engagement Otto Hugs selbst in der homosexuellen Geschichtsforschung kaum etwas bekannt gewesen. Glücklicherweise haben sich im Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft in Neuss aber etliche Briefe, die Hug und Hiller miteinander wechselten, erhalten.4 Mit Hilfe dieses Briefwechsels ist es auch gelungen, zwei Pseudonyme zu entschlüsseln, die Hug ab 1949 als Mitarbeiter der Schweizer Homosexuellen-Zeitschrift Der Kreis benutzte, und ihm in der Folge zehn Veröffentlichungen zuzuordnen.5 An dieser Stelle kann deshalb erstmals ein Lebensbild Otto Hugs gezeichnet werden. Der vorliegende Artikel soll das Schicksal eines badischen Homosexuellen-Aktivisten der frühen Nachkriegszeit in Erinnerung rufen und den Aktionsradius ausleuchten, der Hug als in den Augen Hillers geeignetem „Kämpfer“ gegen die gesellschaftliche und gesetzliche Diskriminierung Homosexueller zur Verfügung stand.
Otto Hugs Lebensweg
Otto Hug wurde am 8. März 1905 im schweizerischen Rheinfelden geboren.6 Während sein Vater, der Fabrikarbeiter Otto Hug, aus dem badischen Reichenbach kam, war seine Mutter Emma Hug (geb. Soland) Schweizerin und stammte aus Möhlin im Aargau. Die Familie zog 1916 nach Freiburg im Breisgau, wo der Sohn im Lauf der 1920er Jahre ein Studium der Literatur und Geschichte aufnahm. Einer seiner Lehrer war der deutschnationale Professor Gerhard Ritter (1888–1967), von dem Otto Hug später behauptete, er selbst sei einer der „großen Lieblinge“ Ritters, aber nie „seines Geistes Kind“ gewesen.7 Nach dem Abschluss seines Studiums Anfang 1929 arbeitete Hug als Lehrer an verschiedenen Oberschulen im badischen Raum, so in Ortenburg und in Bühl. Am Bühler Realgymnasium, das 1927 in Altwindeck-Schule (Oberschule für Jungen in Bühl) umbenannt wurde, unterrichtete er von 1934 bis 1940. Im Oktober 1940 wurde Hug nach Markirch (Sainte-Marie-aux-Mines) ins besetzte Elsass abkommandiert, und im April 1942 von hier zum Heeresdienst eingezogen.
Den äußeren Anlass für die Einberufung Hugs zum Militärdienst im Alter von 37 Jahren war der Umstand, dass ein homosexueller Freund Hugs aus Straßburg (Strasbourg) 1941 Opfer eines SS-Spitzels geworden war.8 Als das Freundes- und Kontaktnetz dieses Freundes aufgerollt wurde, geriet auch Otto Hug ins Blickfeld der Ermittler. Nach einer fünfmonatigen Haft wurde er der deutschen Wehrmacht zugeleitet. Den Militärdienst absolvierte er in Wien. Im Oktober 1945 zog Hug wieder nach Bühl, wo er allerdings nicht mehr als Lehrer tätig wurde. Noch 1948 erhielt er vom Freiburger Unterrichtsministerium den Bescheid, man habe keine Verwendung für ihn. Ein Grund hierfür mag der einschlägige Strafregistereintrag gewesen sein, dessen Streichung Hug erst 1950 erwirken konnte.
Darüber hinaus war Otto Hug aber auch gesundheitlich stark beeinträchtigt. Er litt mit zunehmendem Alter unter Lähmungserscheinungen und hatte ein eingeschränktes Sehvermögen. Beruflich sollte Otto Hug nach dem Zweiten Weltkrieg denn auch nie wieder auf die Beine kommen. Es scheint, als habe er fortan sehr zurückgezogen gelebt. Zu seinem sozialen Umfeld, mit dem er meist nur in brieflichem Kontakt stand, gehörten Karl Gerold (1906–1973), der Herausgeber der Frankfurter Rundschau, und dessen Frau, die Schweizer Pianistin Elsy Gerold-Lang (1899–1988), sowie eine Reihe von homosexuellen Aktivisten der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Unter ihnen befanden sich neben Kurt Hiller und „Rolf“ (Karl Meier, 1897–1974) – dem Herausgeber und Redakteur des Schweizer Kreis – der Darmstädter Psychologe Ernst Ludwig Driess9, der Berliner Medizinstudent und Vereinsaktivist Werner Becker (1927–1980) und der Regensburger Zahnarzt Josef Wagner (1902–1962), der sich um 1950 bemühte, einen „Briefbund“ für Homosexuelle aufzubauen.10
Im August 1954 meldete sich Otto Hug von Bühl nach Freiburg ab, und bis zu seinem Tod am 11. März 1965 wohnte er dort in einem Altersheim. Das bescheidene, aber „freundliche“ Einzelzimmer erfüllte ihn mit Glück, schwieriger fiel es ihm, sich mit einigen Bewohnern und einem Teil des Heimpersonals zu arrangieren, das konservative bis reaktionäre Einstellungen hegte. Spätestens ab 1960 dachte Hug häufiger über eine Übersiedlung nach Hamburg nach – auch um in der Nähe Kurt Hillers zu sein, dessen Schriften er seit 1918 kannte und der seit dieser Zeit Hugs „Leitstern“ gewesen war. In seinen Briefen wie seinen Veröffentlichungen nannte Hug Hiller einen der wenigen „Seher unter Blinden“,11 und er bekannte, erst durch ihn „zu sich selber gefunden“ zu haben: „Klarheit über sich, die Zeit und die Umwelt ging mir wesentlich von Ihnen zu.“12 Die zwei anderen großen Idole, die Hug zeit seines Lebens hatte, waren der Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868–1935) und der französische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger André Gide (1869–1951).
Über sein Intimleben teilte Hug Hiller mit, dass er sich nie an Jüngere gebunden habe, sondern immer „mit den Jahren“ gegangen sei. Nicht ohne Grund habe er im Kreis für sich das Pseudonym „Philander“ gewählt. Ihn interessiere die Jugend nur, sofern sie geistig rege sei, „sonst will ich aber nicht die Blüte, sondern die Frucht.“13 In der kurzen Erzählung „Wie Kaspar über Nacht billig zu einem Regenschirm kam“ brachte Hug zum Ausdruck, dass er sich erotisch vornehmlich von einfachen Bauern und Arbeitern angezogen fühlte.14 Er hatte nach eigenen Worten immer „nach unten geliebt“.15
Hug behauptete gegenüber Hiller, er selbst sei „ein ganz einfacher, unehrgeiziger Mensch“,16 den es in den „hintersten Weltwinkel“ verschlagen habe.17 Nach ihm herrschte in Deutschland und insbesondere im Schwarzwald wieder das Mittelalter. Aus dem Scheitern der Weimarer Republik, in die Hug einst seine Hoffnungen gesetzt hatte, und der Katastrophe des „Dritten Reichs“ sowie des Zweiten Weltkriegs habe kaum jemand Lehren gezogen. Die „vielen findigen und wendigen Zweibeiner“, die aus Karrieregründen unter die Fittiche der CDU gekrochen waren, bezeichnete er als „Totengräber von morgen“,18 und für die SPD hatte er nur insofern etwas übrig, als sie ihm „das kleinere Übel“ zu sein schien.19 Besonders erbosten ihn die katholische Kirche und deren Anhänger, die er gerne „die schwarze Canaille“ nannte.20 Dem Christentum attestierte Hug eine „fundamentale Verlogenheit […] in sexualibus“.21
1953 wurde bei Otto Hug eine multiple Sklerose diagnostiziert, die mit fortschreitenden Lähmungserscheinungen einherging, und die letzten Jahre seines Lebens war er mehr oder weniger an sein Zimmer gebunden. Besonders glücklich war er vor diesem Hintergrund darüber, dass er im Herbst 1960 noch so rüstig war, das Altersheim verlassen zu können, um Kurt Hiller anlässlich eines Vortrags, den dieser im Schiller-Nationalmuseum in Marbach hielt, persönlich zu treffen.
Im Bemühen um eine zweite deutsche Homosexuellen-Bewegung
Die Homosexuellen-Zeitschrift Der Kreis lernte Otto Hug Anfang 1949 durch Kurt Hiller kennen, und obwohl er sich freute, dass die Zeitschrift existierte und er in ihr publizieren konnte, stand er ihr von Anfang an ambivalent gegenüber. Kritisch hielt er fest, der Kreis enthalte viel „fade Literatur und Tanten-Dichtung“.22 An der Zeitschrift störten ihn auch die Zugeständnisse, die „Rolf“ mit regelmäßiger Wiederkehr an die Religion machte. In einem Brief an ihn teilte Hug denn auch mit, wie er sich eine vorbildliche Zeitschrift vorstellte: „Sie müßte auf ganz einwandfreier wissenschaftlicher Basis stehen, niemals Konzessionen – in welcher Form auch immer – z.B. weder in der Weihnachts- oder Osternummer machen, in der Sache immer fest bleiben, dagegen ‚in modo‘ konziliant, soweit das überhaupt möglich ist.“ Für Otto Hug stand fest: „Unsere Heimat ist und bleibt Griechenland, und Konzessionen an vorderasiatische und mittelalterliche Geisteshaltung zu machen, läge mir weltenfern. Ich würde von der Antike einen Sprung in die modernste Wissenschaft wagen, denn das sind die beiden Waffen, die untrüglich immer helfen können.“23
In der frühen Nachkriegszeit war Hug vor allem daran gelegen, die deutschen Homosexuellen mögen unabhängig vom Schweizer Kreis eine eigene Zeitschrift gründen, um mit ihrer Hilfe selbstbewusst für die eigenen Belange einzutreten. Bemerkenswert ist hierbei Hugs Einschätzung, die deutsche Homosexuellen-Bewegung könne nicht einfach wieder da anknüpfen, wo sie 1933 aufgehört habe. Dazu hätten die Nazis zu „effektiv“ gewütet: „Sie haben uns nicht nur gründlich ‚wie böses Unkraut‘ auszuraufen versucht, sondern sie haben die Herzen in ihren lieben ‚aufnahmefähigen Sold‘ genommen, so gründlich gegen uns einzunehmen verstanden, daß wir, solange diese Generation lebt, nie mehr auf einen heiteren Tag rechnen können.“24 Von Mal zu Mal bedauerte er, dass man in Deutschland nicht mehr auf eine Persönlichkeit wie Magnus Hirschfeld zurückgreifen konnte. Auch beklagte er, dass Hirschfelds Schriften in der Nachkriegszeit nicht mehr erhältlich waren. Nicht einmal sein Name sei jüngeren Zeitgenossen noch ein Begriff; Neuauflagen seiner Werke seien dringend nötig. Als Kurt Hiller um 1949 im Geiste André Gides eine „Corydon-Vereinigung“ ins Leben rufen wollte, begeisterte sich Otto Hug unmittelbar für diese Idee. Als Motto schlug er vor: „Wir wollen nicht ‚victimes‘, sondern ‚martyres‘ sein.“25
Im März 1949 erfuhr Otto Hug, dass es in Stuttgart wieder eine erste deutsche Homosexuellengruppe gebe. Vermutlich handelte es sich bei dieser Gruppe um die spätere Kameradschaft die runde. Die Nachricht erfüllte Hug mit Hoffnung, und an Hiller schrieb er, er selbst wolle „aus ganzem Herzen aktiv mitmachen“, wenn eine neue „Kampforganisation“ entstehe.26 Ob Hug mit der Stuttgarter Gruppe aber je Kontakt aufnahm, ist nicht bekannt. Aus dem heimischen Bühl verfolgte er insbesondere die Veröffentlichungen eines Stuttgarter Autors mit Interesse, der sich im Kreis des Kürzels M.M. bediente. Über ihn schrieb Hug. „Seine Ausführungen sind in jeder Hinsicht bemerkenswert und haben hohes Niveau. Ein solcher Mensch an der Spitze eines reformierten WhK, das ließe sich wohl sehen.“27 Noch im Mai 1951 fragte er Hiller: „Wer mag’s wohl sein? Er könnte einen kleinen Leitfaden für die Heranwachsenden unter uns schreiben. Eine gute hs-Pädagogik wäre dringend zu wünschen.“28 Bis heute hat sich nicht ermitteln lassen, wer sich hinter dem Kürzel M.M. verbarg.
Eine weitere Persönlichkeit aus dem südwestdeutschen Raum, auf die Hug große Hoffnungen setzte, war Ernst Ludwig Driess aus Darmstadt.29 Er hatte unter dem Pseudonym „Hoffmann“ ein Buchmanuskript zur Homosexualität verfasst und schickte es Hug im Sommer 1949 zur kritischen Durchsicht zu. Obwohl Hug etliches an dem Manuskript auszusetzen hatte, lobte er es doch als „mutige Tat“.30 An Kurt Hiller schrieb er: „Ich sehe eben das von Hoffmann zugeschickte Buch zum 2. Male durch. Das von mir am meisten beanstandete Kapitel ‚Moral und Moralin‘ ist gänzlich umgearbeitet, nun kann man es gelten lassen. […] Stilistisch läßt es aber immer noch zu wünschen übrig, auch [ist es] oft zu weitschweifig, besonders wenn der Verfasser auf Frau Justitia zu sprechen kommt. Nun ist auch der antiklerikale Ton wesentlich verschärft. Ob es klug ist, ist die Frage, mir jedenfalls ist es nicht unlieb. Auf alle Fälle ist es seit Kriegsende das erste Buch, das bewußt an die große Tradition Hirschfelds anknüpft“.31 Sein baldiges Erscheinen sei sehr zu begrüßen.
Woran das Projekt letztlich scheiterte, ist heute nicht bekannt. Auch über die Lebensumstände Ernst Ludwig Driess‘ liegen bislang keine Angaben vor. Aus dem Briefwechsel zwischen Otto Hug und Kurt Hiller geht jedoch hervor, dass um 1949 auch Hans Giese in Frankfurt das Manuskript Driess‘ betreute. Er riet dem Verfasser, sämtliche Stellen in seinem Text, die sich gegen die katholische Kirche wandten, fallen zu lassen. Für Hug war das nicht annehmbar: „Taktische Erwägungen hin oder her, man kommt nicht darum herum, klare Stellungen zu beziehen, und kann keine Verbeugung vor dem ewig Hassenswerten machen.“32 Im Sommer 1951 erfuhr Hug dann von den entmutigenden Erfahrungen, die Driess mit seinem Manuskript bei einem Stuttgarter Verlag gemacht hatte: „Driess schrieb mir, ‚man‘ habe sich entsetzt darüber, daß er in seinem Buch sich sehr im Gleise Hirschfelds bewege. Der Verlag habe vor einem interessierten, geladenen Kreis Stücke daraus vorlesen lassen, um die Resonanz zu erfahren. Und das geschah in dem aufgeklärten Stuttgart! Ich schrieb ihm: lieber auf die Publikation überhaupt verzichten, als auch nur eine diesbezügliche Stelle zu streichen. Für mich hat das Buch ja auch Schwächen, aber die liegen ganz anderswo. Ich zweifle langsam, ob es überhaupt noch je das ‚Licht‘ erblicken wird.“33 Wenige Monate später brach der Kontakt zwischen Hug und Driess aus bislang unbekannten Gründen ab.
Als sich im August 1949 in Frankfurt am Main der Verein für humanitäre Lebensgestaltung (VhL) formierte und einen Monat später Hans Giese daran ging, das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) neu zu gründen, verfolgte Hug die Vorgänge interessiert aus der Ferne, aber recht schnell sah er sie sehr skeptisch. Ein Grund hierfür mag sein, dass Hiller Hug „Giesekritisch“ über die Frankfurter Verhältnisse informierte. Bald hatte Hug nicht wenig Lust, selbst vor Ort zu fahren, „um Krach zu schlagen.“34 Er beäugte insbesondere das strategische Vorgehen Gieses misstrauisch. Auch als Hug wenige Jahre später Gieses Wörterbuch der Geschlechtskunde las, war er enttäuscht. Er ärgerte sich jetzt vor allem darüber, dass Giese „den Namen Hirschfeld, wo es immer geht, möglichst totschweigt“ und „unter dem Stichwort ‚androtrop‘ solchen Blödsinn verzapft, daß einem die Freude an diesem Buch wieder verdorben wird.“35 Als Hug 1954 „Rolf“ um eine kritische Besprechung von Gieses Buch im Kreis bat, fragte er unverhohlen: „Ist Giese etwa Antisemit?“36
Vorbehalte hegte Hug auch gegenüber Gieses Mitarbeiter im Frankfurter WhK, dem Hamburger Juristen Paul Hugo Biederich (1907–1968). Obwohl er Biederichs Veröffentlichungen einiges abgewinnen konnte, verstörten ihn doch Aussagen, die belegten, wie sehr Biederich nationalsozialistischem Gedankengut verhaftet war. Biederich unterstellte den „nordischen und angelsächsischen Völkern“ eine „schwächere Resistenz gegenüber der ‚Allgewalt des Sexus‘“, was bei ihnen eine strengere Pönalisierung der Homosexualität erforderlich mache als bei den romanischen Völkern. In dem Zusammenhang hielt er fest: „Das Problem [der Homosexualität] spielt weitaus mehr in den Degenerationsprozeß der nordischen Völker hinein, als es vielen lieb ist und zugegeben werden mag.“37
Rückzug und Blicke zurück
Spätestens im Zuge seiner Übersiedlung von Bühl nach Freiburg 1954 zog sich Otto Hug mehr und mehr von den Gruppen und Einzelaktivisten der zweiten deutschen Homosexuellen-Bewegung zurück. Zuflucht suchte er nun vor allem in der Literatur. Neben den Werken seiner Favoriten André Gide, Stefan George und Kurt Hiller las er Bücher von Eduard Keyserling, Josef Mühlberger und Jacob Wassermann. Als Hug 1960 Hans Henny Jahnns Aufzeichnungen eines Einzelgängers entdeckte, machte das Buch einen großen Eindruck auf ihn. An Hiller schrieb er: „Es war für mich die Lektüre ein unaussprechlicher Gewinn, eine Freude und ein Trost.“38 Drei Jahre später ließ er sich von Joseph Breitbachs Bericht über Bruno begeistern – einem Roman, auf den er nach eigenen Worten seit 1933 „mit steigender Ungeduld“ gewartet habe.39
Wie angeführt, hielt Kurt Hiller große Stücke auf Otto Hug. Hiller schätzte Hugs Belesenheit, sein literarisches Urteilsvermögen und seinen „Kampfgeist“, wenn es um das Wirken für die homosexuelle Emanzipation in der Gesellschaft ging. Gesehen werden kann dies bis zu einem gewissen Grad vor dem Hintergrund, dass sich Hug stets offen und fast schon unterwürfig zu Hiller als einem Vorbild bekannte. Hug bewunderte Hillers „mannhaftes und tapferes Eintreten für uns“40 – wobei er mit Letzterem natürlich die Homosexuellen meinte. Für Hiller waren solche Loyalitätsbekundungen wichtig. Auch einte die beiden die Ablehnung von „Vereinsmeiern“ und von Homosexuellen, die nur das Amüsement suchten. Über Heinz Meininger (1902–1983) etwa, den Ersten Vorsitzenden des Frankfurter VhL, konnte Hug schreiben, ihm liege anscheinend nur daran, „Feststabende zu arrangieren. Als ob das notwendig wäre.“41 Meiningers VhL-Hefte hätten Hug jedes Mal „sehr entsetzt, absolute Niveaulosigkeit!“42
Hug war darüber hinaus ein Mensch, der wesentliche Impulse für seine geistige wie menschliche Entwicklung lange vor 1933 empfangen hatte und der sich in den Verlautbarungen Hans Gieses oder Paul Hugo Biederichs nicht wiederfinden konnte. Die beiden standen viel zu sehr im „Sold“ der Nationalsozialisten, als dass er in ihnen geeignete Verbündete im Kampf um Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung entdecken konnte. Im besten Fall machte sich in ihren Schriften die Tradierungslücke bemerkbar, die der Nationalsozialismus gerissen hatte. Auch in seiner Besprechung der Broschüre Was jeder Mann wissen muss des Berliner Nervenarztes Gerhardt Giehm (1898–1964) hielt Hug 1950 resigniert fest: „Alle bis 1933 mühsam errungenen Erkenntnisse scheinen vergessen und verloren gegangen zu sein.“43
Was Hiller für Hug eingenommen haben dürfte, war der Umstand, dass dieser wie er selbst auf die Wissenschaft als einen Motor für die Emanzipationsbewegung setzte. Insofern waren beide aus demselben „Holz“ geschnitzt. Die Lebensumstände Hugs erlaubten aber kaum eine verstärkte Tätigkeit im Rahmen einer wie auch immer gearteten deutschen Homosexuellen-Bewegung. Da war zum einen die innere und äußere Abgeschiedenheit Hugs in seinem „verlorenen Erdenwinkel“ am Rande des Schwarzwalds. Da waren zum anderen aber auch seine prekäre finanzielle Lage und sein sich verschlechternder Gesundheitszustand. Was Hug zudem als Aktivist im Weg stand, war eine ihm eigentümliche Bescheidenheit. Hug fühlte sich zwar von Hillers Werbungen und dessen Versuchen, ihn zu Höherem zu motivieren, geschmeichelt. Er bestand aber darauf, von Hiller nicht zu hoch taxiert und an einen Platz gestellt zu werden, den er nicht voll ausfüllen könne. Sich selbst bezeichnete er dabei als „Schwachmathikus“ und „ein ganz unpraktisches Menschenkind“.44
Was für Hug einnimmt und ihm ein gehöriges Maß an Achtung abgewinnen lässt, ist sein Idealismus und sein Bemühen, aufrechten Hauptes durchs Leben zu gehen. Als sich 1951 ein Freund im Zuge eines Streits über Hugs Mitarbeit im Kreis lustig machte und ihn fragte, was er von ihr habe, andere würden ihn höchstens auslachen, antwortete Hug: „Haben? Das Gefühl, vielen Unglücklichen ein Lichtlein und vielleicht eine Stütze, ja Trost zu sein.“45 Sonst wolle er davon nichts haben. Auch diesbezüglich diente ihm Hiller als ein großes Vorbild. Ihm schrieb Hug einmal: „Sie gaben mir, dem sehr Schwachen, eine Stärke, die mich auch in der entsetzlichsten Situation (1941) keine Sekunde verließ.“46 Gegen Ende seines Lebens hatte sich Otto Hug von etlichen seiner Mitmenschen entfremdet. Selbst fand er nach eigenen Worten nun vor allem Trost darin, dass er trotz seiner schweren Krankheit ganz „ungebrochen“ sei. Angesichts der fortschreitenden Lähmungserscheinungen, gegen die er nichts unternehmen konnte, bekannte er Hiller: „Nur das Köpfchen ist noch hell, ganz hell. Und dafür bin ich dem Schicksal besonders dankbar.“47 Seinen letzten Brief an Kurt Hiller schloss Otto Hug mit den Worten: „Was mich angeht, werde ich als ganz ungebrochenes Exemplar der Gattung Mensch in die Grube steigen.“48
Der Autor des vorliegenden Artikels freut sich über jeden weiteren Hinweis zum Lebensweg und Wirken Otto Hugs. Mitteilungen sind über die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft erbeten an: mhg@magnus-hirschfeld.de.
Bibliographie Otto Hug:
Anonym [d.i. Hug, Otto]: Lieber Kreis!, in: Der Kreis 1949 (Jg. 17), Nr. 3, S. 6-7, 23.
Philander [d.i. Hug, Otto]: Das nicht gesagte wesentliche Wort. Kritisches zum „Totenwald“ von Ernst Wiechert, in: Der Kreis 1949 (Jg. 17), Nr. 7, S. 22.
Philander [d.i. Hug, Otto]: Die Welt der Sprache. Theseus – von André Gide, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 2, S. 5.
Philander [d.i. Hug, Otto]: Nach dem Fest, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 2, S. 22-23.
Philander [d.i. Hug, Otto]: Selbstmord aus Furcht vor Schande, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 3, vordere Umschlagseite.
Philander [d.i. Hug, Otto]: [Besprechung von] Kurt Hiller: Köpfe und Tröpfe, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 10, S. 5-6.
Philander [d.i. Hug, Otto]: [Besprechung von] Dr. Henri L. ten Bergh: Das Rätsel der Homosexualität, in: Der Kreis 1951 (Jg. 19), Nr. 5, S. 27.
Philander [d.i. Hug, Otto]: Platen – das Opfertier, in: Der Kreis 1951 (Jg. 19), Nr. 8, S. 27-28.
Philander [d.i. Hug, Otto]: Der braune Hauptmann als Hüter der Moral, in: Der Kreis 1952 (Jg. 20), Nr. 11, S. 4-5.
Manlius [d.i. Hug, Otto]: Wie Kaspar über Nacht billig zu einem Regenschirm kam, in: Der Kreis 1953 (Jg. 21), Nr. 10, S. 12-13.
Fußnoten:
1 Kurt Hiller stammte gebürtig aus Berlin. Nach seiner Verhaftung und Internierung in verschiedenen Konzentrationslagern gelang ihm 1934 die Flucht in die Tschechoslowakei. 1955 kehrte er aus London kommend nach Deutschland zurück und ließ sich in Hamburg nieder, wo er auch verstarb. Er wurde 1907 als Externer mit der Arbeit Die kriminalistische Bedeutung des Selbstmordes an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg zum Dr. jur. promoviert.
2 Vgl. Wolfert, Raimund: Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik. Kurt Hiller, Hans Giese und das Frankfurter Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (Hirschfeld-Lectures 8). Göttingen: Wallstein 2015.
3 Kurt Hiller an Hans Giese vom 9.9.1949 (Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft/KHG).
4 Im Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft sind insgesamt 89 Briefe Hugs an Hiller und zwei von Hiller an Hug aus dem Zeitraum 1948 bis 1964 erhalten. Ich danke Dr. Harald Lützenkirchen dafür, dass er mir den Briefwechsel zwischen Otto Hug und Kurt Hiller zur Verfügung gestellt hat.
5 Otto Hug bediente sich im Kreis der Pseudonyme „Philander“ und „Manlius“. In deutscher Übersetzung bedeutet „Philander“ so viel wie „Der, der Männer liebt“. Das Pseudonym „Manlius“ wählte Otto Hug nach dem römischen „Buhlknaben“ Manlius in Stefan Georges Gedicht „Porta Nigra“ (1909), der die moderne Zivilisation verfluchte. Eine Kurzbibliographie zu Otto Hug findet sich im Anschluss an diesen Artikel.
6 Für die Daten zu Otto Hugs Lebensweg danke ich Dr. Marco Müller vom Stadtgeschichtlichen Institut Bühl und Inga Böing vom Stadtarchiv in Freiburg.
7 Otto Hug an Kurt Hiller vom 25.11.1954 (KHG).
8 Vgl. Anonym [d.i. Hug, Otto]: Lieber Kreis!, in: Der Kreis 1949 (Jg. 17), Nr. 3, S. 6-7, 23.
9 Die Lebensdaten von Ernst Ludwig Driess haben sich noch nicht ermitteln lassen.
10 Vgl. Wolfert 2015, S. 30. Im Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft sind über 200 Briefe Wagners an Hiller (sowie einige wenige Gegenbriefe) aus den Jahren 1947 bis 1960 bewahrt. Sie sind jedoch wissenschaftlich noch nicht ausgewertet worden. Hier wartet ein spannendes und lohnenswertes Betätigungsfeld für eine_n Historiker_in zur deutschsprachigen Homosexuellen-Bewegung der Nachkriegszeit.
11 Otto Hug an Kurt Hiller vom 8.11.1948 (KHG), vgl. Philander: [Rezension zu] Kurt Hiller. Köpfe und Tröpfe, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 10, S. 5-6.
12 Otto Hug an Kurt Hiller vom 16.8.1950 (KHG).
13 Otto Hug an Kurt Hiller vom 30.11.1950 (KHG).
14 Manlius [d.i. Hug, Otto]: Wie Kaspar über Nacht billig zu einem Regenschirm kam, in: Der Kreis 1953 (Jg. 21), Nr. 10, S. 12-13, Zit. S. 13.
15 Otto Hug an Kurt Hiller vom 19.9.1949 (KHG).
16 Otto Hug an Kurt Hiller vom 1.12.1948 (KHG).
17 Otto Hug an Kurt Hiller vom 28.4.1949 (KHG).
18 Otto Hug an Kurt Hiller vom 8.11.1948 (KHG).
19 Otto Hug an Kurt Hiller vom 13.8.1951 (KHG).
20 Otto Hug an Kurt Hiller vom 13.2.1951 und vom 26.7.1960 (KHG).
21 Otto Hug an Kurt Hiller vom 27.9.1951 (KHG).
22 Otto Hug an Kurt Hiller vom 4.3.1949 (KHG).
23 Otto Hug an „Rolf“ vom 3.8.1954 (KHG),
24 Anonym [d.i. Hug, Otto] 1949, S. 6.
25 Otto Hug an Kurt Hiller vom 4.3.1949 (KHG).
26 Otto Hug an Kurt Hiller vom 29.3.1949 (KHG).
27 Otto Hug an Kurt Hiller vom 13.2.1951 (KHG). M.M. widmete sich dem Thema Homosexualität im Kreis vornehmlich aus soziologischer und psychologischer Perspektive. Vgl. M.M.: Kritik und Besinnung. Anmerkungen zum Problem der Homosexualität, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 12, S. 14-16; M.M.: Stationen der homosexuellen Entwicklung, in: Der Kreis 1951 (Jg. 19), Nr. 4, S. 2-6.
28 Otto Hug an Kurt Hiller vom 23.5.1951 (KHG).
29 Wie der Kontakt zustande kam, wird aus dem erhaltenen Briefwechsel zwischen Otto Hug und Kurt Hiller nicht ersichtlich. Hug erwähnte den Namen „Hoffmann“ im Sommer 1949 zum ersten Mal. Um diese Zeit schrieb er Hiller, dass er auf seinen Beitrag im Kreis vom März 1949 viele Zuschriften erhalten habe. Möglicherweise hatte auch „Hoffmann“ über „Rolf“ Kontakt mit Hug aufgenommen.
30 Otto Hug an Kurt Hiller vom 29.6.1949 (KHG).
31 Otto Hug an Kurt Hiller vom 13.9.1949 (KHG). Möglicherweise stammt auch der Artikel zu Ernst Driess‘ Buchmanuskript im Kreis aus der Feder Otto Hugs. Vgl.: Anonym: Ein neues Buch von Ernst Driess, Darmstadt, wartet auf einen Verleger!, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 12, S. 34-35.
32 Otto Hug an Kurt Hiller vom 1.12.1949 (KHG).
33 Otto Hug an Kurt Hiller vom 27.7.1951 (KHG). Der Name des Stuttgarter Verlags ist leider nicht überliefert.
34 Otto Hug an Kurt Hiller vom 25.2.1950 (KHG).
35 Otto Hug an Kurt Hiller vom 31.3.1954 (KHG).
36 Otto Hug an „Rolf“ vom 3.8.1954 (KHG).
37 Biederich, Paul Hugo: [Besprechung von] Kinsey, Pomeroy, Gebhard: Concepts of normality and abnormality in sexual behaviour, in: Zeitschrift für Sexualforschung 1950 (Jg. 1), Nr. 2, S. 194-197, Zitat S. 196.
38 Otto Hug an Kurt Hiller vom 14.8.1960 (KHG).
39 Otto Hug an Kurt Hiller vom 12.2.1963 (KHG).
40 Otto Hug an Kurt Hiller vom 19.12.1948 (KHG).
41 Otto Hug an Kurt Hiller vom 23.5.1951 (KHG).
42 Otto Hug an Kurt Hiller vom 3.8.1951 (KHG).
43 Philander [d.i. Hug, Otto]: Nach dem Fest, in: Der Kreis 1950 (Jg. 18), Nr. 2, S. 22-23, Zit. S. 22.
44 Otto Hug an Kurt Hiller vom 16.7.1949 (KHG).
45 Otto Hug an Kurt Hiller vom 20.7.1951 (KHG).
46 Otto Hug an Kurt Hiller vom 12.10.1950 (KHG).
47 Otto Hug an Kurt Hiller vom 12.2.1963 (KHG).
48 Otto Hug an Kurt Hiller vom 12.3.1964 (KHG).