Vor 60 Jahren: Deutschlandpremiere von Anders als du und ich (§ 175) in Stuttgart
von Dr. Julia Noah Munier
Am 30. Oktober 1957, vor 60 Jahren, feierte im Stuttgarter Gloria Palast der – ausgerechnet von NS-Starregisseur Veit Harlan verfilmte – erste westdeutsche „Homosexuellenfilm“ Anders als du und ich (§ 175) Deutschlandpremiere.1 Bereits im Vorfeld, aber auch während seiner 14-tägigen Spielzeit in Stuttgart entwickelten sich zahlreiche Konflikte um die Bewerbung des Films und der Premierenveranstaltung.2 Über dieses film- und gesellschaftspolitische Ereignis ist heute wenig bekannt. Weshalb fand die westdeutsche Uraufführung und Premierenveranstaltung ausgerechnet in Stuttgart statt? Wie wurde der Film vom hiesigen Publikum und der Kritik aufgenommen? Und wie reagierten zeitgenössische Homophilengruppen im deutschen Südwesten?
Ursprünglich plante die Arca-Filmgesellschaft den Film in Berlin uraufzuführen. Da aber der Berliner Senat ein Verbot der Vorführungen von Veit-Harlan-Filmen beschlossen hatte, entschied sich die Arca für eine Premierenveranstaltung in einem der modernsten Großfilmtheater der jungen Bundesrepublik, dem Gloria-Palast in der Stuttgarter Innenstadt.3 Am Premierenabend im Gloria-Palast, damals schon im Marquart-Gebäude direkt am Schlossplatz gelegen, waren neben dem Regisseur Veit Harlan (1899-1964) auch die Schauspieler_innen Paula Wessely (1907-2000), Paul Dahlke (1904-1984), Ingrid Stenn (1932-1997) und Christian Wolff (*1938) anwesend.4 Während wir von der Vorführung in Düsseldorf im Dezember 1957 wissen, dass es bei der Aufführung des Films zu Protesten kam, ist dies für die Aufführungen in Stuttgart nicht bekannt.5 Dass Anders als du und ich (§ 175) dennoch hochumstritten war, zeigt sich anhand der Rezeption des Films und seiner Bewerbung in der Lokalpresse.
Der Anfang der 1950er Jahre wegen seiner NS-Verstrickungen von einem bundesdeutschen Gericht skandalöserweise freigesprochene Veit Harlan, u.a. Regisseur des antisemitischen NS-Propagandafilms Jud Süß (1940), brachte mit Anders als du und ich (§ 175) mann-männliches gleichgeschlechtliches Begehren erstmals auf die Leinwände bundesdeutscher Kinos. Der Film wurde in seiner ursprünglichen ersten Fassung mit dem Titel Das dritte Geschlecht in einer liberalisierenderen Absicht u.a. unter wissenschaftlicher Mitarbeit des Sexualforschers Hans Giese (1920-1970) produziert. In der BRD wurde er von der Freiwilligen Selbstkontrolle Filmwirtschaft (FSK) zunächst nicht freigegeben. Er erschien hier, anders als in Österreich und der Schweiz,6 in einer deutlich veränderten Fassung, unter dem Titel Anders als du und ich (§175).7
Der Paragraf 175, der in seiner im NS verschärften Fassung Eingang in das bundesdeutsche Strafgesetzbuch gefunden hatte, galt bis zur Reform des Paragrafen im Jahr 1969 fort. Mehr noch, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bestätigte im Urteil vom 10. Mai 1957 das gültige Strafrecht. Zeitschriften mit „homosexuellem Inhalt“ wurden aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt und Vereine aufgelöst.8 Zudem schnellten die Verurteilungen nach § 175 und § 175a in die Höhe.9 Das gesellschaftliche Klima insbesondere gegenüber männlichen Homosexuellen war also äußerst repressiv.
Nach dem Ermessen der FSK war die erste Fassung des Films mit dem Titel Das dritte Geschlecht zu liberal geraten. Der Film lasse laut Begründung der FSK „keine eindeutige Stellungnahme gegen das Treiben der Homosexuellen erkennen“.10 Daher müsse er „entsittlichend auf weite, normal empfindende Kreise wirken.“11 Abschließend heißt es: „Nicht nur aus Gründen der Moral, sondern auch aus dem Gesichtspunkte der Erhaltung der Volksgesundheit muss der Film, der zur Popularisierung eines perversen sexuellen Verhaltens beiträgt, vom Publikum ferngehalten werden.“12 In der für die BRD schließlich freigegebenen Fassung, in der zahlreiche Szenen der ursprünglichen Fassung gestrichen, geschnitten oder neu vertont wurden, reproduziert der Film massive Stereotype homosexueller Männer, insbesondere das des Jugendverführers.13 Anders als du und ich (§ 175) war also nicht nur Harlans zweifelhafter Verdienst, sondern er wurde maßgeblich durch die FSK mitbeeinflusst. Die problematische Botschaft des Films war in den 1950er Jahren auch politisch durchaus gewollt.
Der Film erzählt von der Sorge einer Mutter (Christa Teichmann/Paula Wessely), die befürchtet ihr Sohn Klaus (Christian Wolff) schwärme für seinen Mitschüler Manfred Glatz (Günther Theil) und werde von dem deutlich älteren Kunsthändler Dr. Boris Winkler (Friedrich Joloff), homosexuell „verleitet“. Um ihren Sohn wieder auf den „richtigen Weg“ einer heterosexuellen Liebesbeziehung zu bringen, ermutigt Mutter Teichmann eine junge Frau, Gerda Böttcher (Ingrid Stenn), ihre Haustochter, ihren Sohn Klaus zu verführen. Die als ehrenwert und gutmütig erscheinende Mutter verstößt mit ihrer Initiative gegen den damals noch gültigen Kuppelei-Paragrafen § 180/181 StGB. Winkler, gegen den der um seinen Sohn besorgte Vater Teichmann eine Anzeige angestrengt hatte, setzt sich nun seinerseits mit einer Anzeige gegen Frau Teichmann zur Wehr. Der Film erzählt die Geschichte ihres Sohnes in einer Art Rückblende und Erinnerungssequenz der Mutter, die sich vor Gericht aufgrund von Kuppelei verantworten muss.
Der Gloria-Palast bewarb die Premierenveranstaltung von Anders als du und ich (§ 175) bereits zwei Tage zuvor, in der Morgenausgabe vom 28.10.1957 mit einer hochformatigen Werbereklame, die in beiden großen Stuttgarter Tageszeitungen, den Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung geschaltet wurde. Unter der Headline „Wir stellen zur Diskussion“, und dem Titel des Films „Anders als du und ich (§ 175)“ ist zu lesen: „Dieser unter dem Arbeitstitel DAS DRITTE GESCHLECHT hergestellte und bereits seit Wochen unter diesem Titel in Österreich laufende deutsche Film wurde nun auch für Deutschland freigegeben!“14 Dazu wird in der Anzeige visuelles Material zu sehen gegeben, das anspielungsreich auf einen Film mit homosexuellem Inhalt verweist.
Die Anzeige zeigt zentral die in dem Film von Friedrich Joloff (1908-1988) gespielte Figur des homosexuellen Kunsthändlers Dr. Boris Winkler. Winkler berührt in dieser Szene einen deutlich jüngeren Mann, es ist der dem Kunsthändler zugeneigte Manfred Glatz, gleichsam prüfend wie verführend am Kinn. Die Gegenlichtaufnahme bewirkt, dass von den Figuren kaum mehr als eine Kontur zu sehen ist. Ein Kniff, der sie ins Zwielicht rückt und ebenso erscheinen lässt. Die im Hintergrund angedeutete verschlossene Tür verstärkt diesen Eindruck einer abgeschiedenen Verführungssituation. Die Anzeige des Gloria-Palastes spielt hier deutlich mit dem gesellschaftlichen Unbehagen vor homosexuellen Männern in den 1950er Jahren. Sie adressiert und produziert zugleich gesellschaftlich tradierte Ängste vor der Figur des Jugendverführers. Die hochformatige Werbeanzeige gibt unterhalb des Titels ein junges heterosexuelles Liebespaar zu sehen, dass sich in inniger Pose am Boden liegend umarmt. Es sind die Film-Figuren Klaus Teichmann und die Haustochter der Teichmanns, Gerda Böttcher.15
In Folge dieser Werbeanzeige traten verschiedenste Akteur_innen in Aktion, um eine nochmalige Publikation der als anstößig empfundenen Bewerbung des Films zu verhindern. So schrieb aufgrund dieser Werbeanzeige die Evangelische Filmgilde in Württemberg an die Geschäftsführung des Gloria-Palastes: „[…] ‚Anders als du und ich‘ [sic.] hatte in Wort und Bild eine widerliche Zeitungsreklame […]. Der Hinweis auf das mehrfache Verbot spricht auch nur einen ziemlich dekadenten Kreis von Menschen an. Wir werden […] diese Reklame der FSK unterbreiten.“16 Bei der Stuttgarter Zeitung gingen noch am selben Tag persönliche Beschwerden bezüglich der Anzeige ein. Die verantwortlichen Redakteur_innen der Zeitung bekundeten in einem gemeinsamen Treffen diese Werbeanzeige nicht mehr zu veröffentlichen. Begründet wurde dies mit dem als anstößig wahrgenommenen unteren Picturestill, das die Figuren Klaus und Gerda in sexueller Pose zu sehen gibt, mit der Erwähnung des ursprünglichen Verleihtitels Das dritte Geschlecht, der „sexuelle Neugier vor allem von Kindern und Jugendlichen“ wecke und damit, dass das obere Picturestill den „Versuch der Verführung des Jugendlichen durch den Älteren“ zeige und es sich damit um eine Repräsentation eines „erschwerten Fall[es] des § 175a Ziff. 3 StGB handelt […]“. Das Inserat könne nur dann gebracht werden, wenn die Erwähnung des § 175 wegfalle.17
Auch das baden-württembergische Innenministerium wurde aufgrund dieser Werbeanzeige hellhörig und bei der FSK in Wiesbaden vorstellig. Dort wurde in Erfahrung gebracht, dass die in der Zeitung erschienene Reklame von der FSK nicht genehmigt worden war Daher wurde die Anzeige dem Oberstaatsanwalt vorgelegt und Anzeige gegen den Filmtheaterbesitzer erhoben. Die Anzeige musste vor ihrer erneuten Schaltung von Seiten des Filmtheaters überarbeitet werden. Am nächsten Tag erschien die Werbeanzeige in leicht veränderter Fassung,18 in der lediglich das untere Picturestill ausgetauscht wurde. Die überarbeitete Anzeige enthielt nun eine „unverfänglichere“, weniger explizite Szene, in der sich die Figuren Klaus und Gerda verliebt in die Augen schauen.19 Die im Close-up gezeigte heterosexuelle Konstellation wird hier über die Geste einer zärtlichen Berührung und den Blickkontakt beider Figuren als innige Liebesbeziehung ins Bild gesetzt. In der Gegenüberstellung des unteren Picturestills, in dem die heterosexuelle Verbindung über die angedeutete Liebesbeziehung als wahrhaftig repräsentiert wird, mit dem oberen Picturestill, wird der Eindruck des Dubiosen, den das obere Picturestill in der Werbeanzeige bereits hervorgerufen hatte, noch verstärkt.
Trotz der Genehmigung dieser Reklame durch die FSK weigerte sich die Stuttgarter Zeitung diese Anzeige abzudrucken und so erschien diese veränderte hochformatige Anzeige einen Tag vor der Deutschlandpremiere, am 29.10.1957 lediglich in den Stuttgarter Nachrichten. Am Tag der Premiere am Mittwoch, den 30.10.1957, wird Anders als du und ich (§ 175) in den beiden großen Stuttgarter Zeitungen jeweils mit einer halbseitigen Anzeige im Querformat beworben.20
Bis auf den in großen Lettern lesbaren Hinweis „§ 175“ sind die Hinweise auf einen Film mit homosexuellen Inhalt hier allerdings äußerst verhalten. Auch der Hinweis auf den ursprünglichen Titel Das andere Geschlecht ist nun verschwunden. Stattdessen wird der Film als Familiendrama mit üppiger Figurenkonstellation beworben. Deutlich wird auch die Anwesenheit einiger Schauspieler_innen sowie des in der Nachkriegszeit äußerst umstrittenen ehemaligen NS-Starregisseurs betont. Unter der Headline „Deutsche Erstaufführung“ wird das Figurenensemble des Films fächerartig gruppiert. In der Mitte befinden sich gewissermaßen als „Publikumsmagneten“ und „Zugpferde“ die in den 1950er Jahren einem breiten Publikum bekannten Paula Wessely und Paul Dahlke, die die besorgten Eltern des zentralen Protagonisten Klaus Teichmann spielen. Das Elternpaar wird gerahmt durch zwei unterschiedliche Figurenkonstellationen, die ihren Sohn Klaus, einmal in einer heterosexuellen Anordnung und einmal in einer mann-männlichen Konstellation zeigen. Der sorgenvolle, fast strenge Blick der Elternfiguren richtet sich auf die Konstellation, in der der ältere Mann ihrem Sohn den Arm freundschaftlich auf die Schulter legt. Außerhalb des elterlichen Sichtfeldes blicken sich die Figuren Klaus Teichmann und Gerda Böttcher tief in die Augen.
Homosexualität wird in dieser Annonce nun vordringlich über den Strafrechtsparagrafen § 175 und nur noch erahnbar über die Geste der auf der Schulter ruhenden Hand des älteren Mannes auf der Schulter des jüngeren Mannes zu sehen gegeben, die erst in der Verbindung mit dem Filmtitel als homosexuelle Geste deutbar wird. Mehr noch, selbst diese kleine, kaum wahrnehmbare Geste wird als etwas inszeniert, um das sich Eltern sogen machen müssen, während die heterosexuelle Zuneigung Jugendlicher keiner weiteren elterlichen Beachtung (mehr) bedarf. In diesen Tagen Ende Oktober 1957 wurde die Stuttgarter Polizei durch das baden-württembergische Innenministerium beauftragt nach einer eventuellen Großreklame für den Film zu suchen. Und obwohl bereits ein Werbebild im Querformat in Arbeit war, entschied sich die Geschäftsführung des Gloria-Palastes dieses nicht auszuhängen.21
In ihren Filmkritiken zerrissen die Redakteur_innen der beiden Stuttgarter Tageszeitungen den Film.22 In der Stuttgarter Zeitung heißt es: „Ein Film, der sich auf indezente Weise in Privatangelegenheiten mischt und vorgibt, daß ihm die Probleme, die er behandelt, am Herzen liegen. Aber ihm liegt an der Sensation.“23 Die Eigentümer des Filmtheaters sahen sich veranlasst, den Film in der zweiten Aufführungswoche erneut kräftig zu bewerben. Das Gloria schaltete am Mittwoch, den 6.11.1957, in den Stuttgarter Nachrichten unter dem Titel „Ein beachtenswertes Leserurteil“ eine unkonventionelle Großanzeige in Gestalt eines überdimensionierten Leserbriefes. In diesem empört sich der Autor über die einige Tage zuvor erschienene Filmkritik der Stuttgarter Zeitung und konstatiert: Der Film „[…] sollte den Oberstufen der Schulen mit dem nötigen einleitenden Kommentar gezeigt werden[….]“. Er schreibt weiter, dass der Regisseur Veit Harlan es verstehe mit Anders als du und ich (§ 175) seinem Publikum endlich mal wieder etwas zu geben, „was zum Nachdenken und Diskutieren veranlassen sollte, und damit wäre der Sache gedient, unsere Jugend vor Elementen fernzuhalten, wie sie von dem sauberen Kunsthändler nicht besser hätten dargestellt werden können. Oder sollte gar das ganze Thema lieber totgeschwiegen werden, damit gewisse Kreise auch in Stuttgart besser ihren ‚platonischen‘ Gefühlen für unsere Jugend nachgehen können?“24 Während die Stuttgarter Nachrichten den Leserbrief in voller Läge abdrucken, weigerte sich die Stuttgarter Zeitung die Anzeige des Gloria-Palastes zu drucken. Aufgrund der Nichtschaltung der Großanzeige des Leserurteils zieht die Inhaber-Firma des Gloria Palastes ihre großformatigen Kinofilmanzeigen aus der Stuttgarter Zeitung zurück.25
In Folge der Aufführung von Anders als du und ich (§ 175) wurde auch die im schwäbischen Reutlingen ansässige Homophilengruppe Kameradschaft die runde aktiv. Auf ihre Initiative interviewte der linksliberale Publizist, Schriftsteller und spätere Autor der Publikation Der Massenmord an Homosexuellen im Dritten Reich (1967), Reimar Lenz (1931-2014), den Regisseur Veit Harlan in seinem Haus am Starnberger See.26 Lenz berichtet: „Veit Harlan haben mir die guten Leutchen von der runde eingebrockt. Ich hatte diesen Film ‚Anders als du und ich‘ gesehen, ein ziemlich verlogenes Produkt mit scheinplausibler Handlung, aber unterschwelliger Diffamierung. Ich hab mich darüber geärgert und hab gesagt, den muss man ja ein bisschen aufs Kreuz legen. Ausgerechnet der Regisseur von ‚Jud Süß‘ macht ein solches schmieriges Machwerk. Ich bin dem nachgegangen und habe ihn in Süddeutschland aufgegriffen.“ Weiter erzählt Lenz mit spöttischem Bezug auf Harlans Frau, die ihren Spitznamen aufgrund mehrerer NS-Filmrollen und den Wassertod der von ihr gespielten weiblichen Filmfiguren erhalten hatte, nachdenklich: „Die Reichswasserleiche, Kristina Söderbaum, ging immer unruhig mit gefalteten Händen am Fenster auf und ab. Die hatten Angst vor mir. Ich habe aber nicht Gelegenheit genommen, das zu veröffentlichen, vielleicht habe ich mich nicht rangetraut. […]“.27 Im Rahmen von ICSE-Press,28 einem von dem bürgerlich-konservativen Journalisten Johannes Werres (1923-1990)29 herausgegebenem „homosexuellen“ Pressedienst, den Werres von 1956 bis 1958 im Büro des International Committee for Sexual Equality in Amsterdam herstellte und an deutsche Zeitschriften versandte, wurde im Februar 1958 ein Interview mit Veit Harlan abgedruckt.30 Als Interviewer sind die Pseudonyme Bodo Reinholdt und Norbert Weißenhagen angegeben, die laut Bernd-Ulrich Hergemöller beide der Journalist Johannes Werres verwendete.31 Möglicherweise verbarg sich hinter dem Pseudonym Bodo Reinholdt aber auch Reimar Lenz, der sonst unter dem Pseudonym Wolfgang Harthauser publizierte.
Das Interview bot Harlan in gewisser Hinsicht die Möglichkeit, sich selbstbewusst als liberaler Regisseur zu inszenieren. Es musste vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit als hochkarätiger NS-Regisseur auf eine Leser_innenschaft der späten 1950er Jahre äußerst problematisch wirken, dass ausgerechnet Harlan hier fast eine Art Schulterschluss mit einer gemäßigten Emanzipationsbewegung wagte. Vielleicht lag für einen Journalisten wie Reimar Lenz gerade darin auch die Unmöglichkeit, sich auch in späteren Jahren als Interviewer von Veit Harlan zu erkennen zu geben. In diesem Interview nimmt Harlan Bezug auf die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die ihn in ihrer Kritik immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Harlan konstatiert larmoyant: „Hätte Müller oder Schulze den Film gemacht und nicht Harlan, dann hätte man gesagt: das ist ein großer Regisseur, der kann Menschen führen, und was am Film an spießbürgerlicher Gesinnung ist, so würde man üblicherweise sagen, na ja, so sind se! – Aber der Fluch von ‚Jud Süß‘ läuft mir immer nach, und ich habe keine Veranlassung, gegen eine Menschengruppe vorzugehen. Es hätte niemand gewagt, auch die FSK zu kritisieren, hätte der Regisseur nicht Harlan geheißen.“32
In diesem Interview heben die Interviewer von ICSE-Press auf den im Titel genannten § 175 ab und kritisieren diese Bezugnahme als schwierig. Harlan selbst erhält daraufhin die Möglichkeit auf die vormalige erste Version des Films hinzuweisen und die Schnittvorgaben der FSK in den Fokus des Interviews zu rücken. Schließlich konstatiert Harlan: „Durch Verkürzungen wird immer aus einem Tendenz- ein Propagandafilm […]“.33 In diesem Zusammenhang hebt Harlan auf eine von der FSK gekürzte Szene ab, in der Dr. Winkler einen homosexuellen Rechtsanwalt aufsucht, der ein bürgerliches Leben pflegt. Diese in der ursprünglichen Fassung enthaltene Figur trug maßgeblich zu einer differenzierteren Darstellung homosexueller Männer im Film bei. Harlan konstatiert: „Sehen Sie, diese Szene ist […] rausgeschnitten, die Szene mit dem Rechtsanwalt, der ‚unter dem gleichen Stern‘ geboren ist, der den Paragrafen für absolutes Unrecht hält, aber da er weiß, dass die bürgerliche Gesellschaft aus Üblichkeit die Homosexuellen ablehnt, von diesen besondere Sittlichkeit fordert. Dieser Rechtsanwalt […] hat erkannt, dass Polygamie immer Untreue, und Untreue immer Leid bedeutet. Auch für den Rechtsanwalt ist diese Veranlagung Schicksal, aber ein Schicksal, das er als sittlicher Mensch gestaltet. – Zu dieser Szene schrieb die FSK, sie rechtfertige alle Homosexuellen, die keine Verbrechen begingen! Na und? Dazu kann ich nur sagen: So ist es!“34
Liebe Leser_innen, haben Sie eine Aufführung des Films Anders als du und ich (§ 175) im deutschen Südwesten erlebt? Wie wurde der Film in Ihrer Stadt aufgenommen? Haben Sie vielleicht noch eine Eintrittskarte oder andere Materialien zum Film? Waren Sie sogar auf der Premierenveranstaltung in Stuttgart? Treten Sie mit uns in Kontakt! Wir freuen uns über Ihre Hinweise! Sie erreichen uns unter diesem LINK.
Literatur:
Buchloh, Stephan (2002): „Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Frankfurt a.M., New York: Campus.
Dokumente zur Produktionsgeschichte im DVD-ROM-Bereich. DVD-Edition Filmmuseum. „Anders als du und ich“ (2007). 2. um Informationen im Booklet erweiterte Aufl. (Edition Filmmuseum 05).
Falk, Francesca (2008): Grenzverwischer. „Jud Süss“ und „Das Dritte Geschlecht“. Verschränkte Diskurse von Ausgrenzung. Innsbruck, Wien u.a.: Studien Verl. (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 13)
Gottberg, Joachim von (1999): Die FSK wird 50. In: tv diskurs. 3. Jg., 4/1999 (Ausgabe 10), S. 34-45.
Reinhold, Bodo; Weißenhagen, Norbert (1958): „§ 175 – Anders als Harlan und die FSK. Da wird geändert, und du weißt nicht wie. ICSE-Press interviewte Veit Harlan am 26. Januar 1958 in Starnberg a.S.“, Schwules Museum, Bestand: Kameradschaft die runde.
Steinle, Karl-Heinz (1997): ICSE-Kurier für die deutschsprachige Literatur. In: Goodbye to Berlin?. 100 Jahre Schwulenbewegung. Eine Ausstellung des Schwulen Museums und der Akademie der Künste, 17. Mai bis 17. August 1997. Berlin: Verlag rosa Winkel, S. 203.
Steinle, Karl-Heinz (1998): Die Geschichte der „Kameradschaft die runde“ 1950 bis 1969. Berlin: Schwules Museum, Verl. Rosa Winkel. (Hefte des Schwulen Museums).
Pretzel, Andreas (2010): Homosexuellenpolitik in der frühen Bundesrepublik. In: Queer Lectures. Schriftenreihe der Initiative Queer Nations. 3. Jg., 8 (2010), S. 5-44.
Weitere Quellen:
Anders als du und ich (§ 175). D: 1957. R: Veit Harlan. DB: Felix Lützkendorf, wiss. Beratung: Hans Giese. P: Gero Wecker. PC: Arca-Filmproduktion GmbH: 91 Min.
Schwules Museum Berlin
Stuttgarter Nachrichten
Stadtarchiv Stuttgart
Stuttgarter Zeitung
Transkription des Audio-Interviews von Karl-Heinz Steinle mit Reimar Lenz vom 3.9.1996. Teilweise abgedruckt in: Steinle 1998, S. 32.
DVD-Tipp:
Anders als du und ich. Edition Filmmuseum
LINK: https://www.edition-filmmuseum.com/product_info.php/info/p7_Anders-als-du-und-ich.html
Fußnoten
1 In einigen Forschungen wird der 31.10.1957 als Premierendatum genannt. Vgl. z.B. Volk 2011. Die Premiere wird in den Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung aber für den 30.10.1957 um 18.45 und 21 Uhr beworben.
2 Der Film lief vom 31.10. bis zum 12.11.1957 fünfmal täglich im Stuttgarter Gloria-Palast.
3 Vgl. Reinhold; Weißenhagen 1958, S.1.
4 Vgl. Stuttgarter Nachrichten, 30.10.1957, S. 14. Stuttgarter Zeitung, 30.10.1957, S. 16, Vorstellungen im Gloria-Palast um 18.45 u. 21.00 Uhr, Halbseitige Anzeige auf S. 18.
5 In Düsseldorf beanstandete eine Gruppe von etablierten Künstlern die Koppelung von moderner Kunst und Homosexualität. Sie forderten u.a. bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft in Wiesbaden ein Aufführungsverbot des umstrittenen Films. Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 5.12.1957, „Künstler protestieren gegen Harlan-Film“, Rubrik „Film, Funk, Fernsehen“.
6 Vgl. zu den unterschiedlichen Versionen Falk 2008 sowie die DVD der Edition Filmmuseum „Anders als du und ich“ (2007), die die schöne Möglichkeit bietet, Szenen beider Versionen zu vergleichen. Sie macht damit deutlich, wie unterschiedlich und wie problematisch die von der FSK veränderte Fassung ist. Vgl. hierzu auch Volk 2011.
7 Die FSK bestand aus Vertreter_innen der Filmwirtschaft, der Länder, der Katholischen Jugend Bayerns und der Kirchen. Das Gremium nahm im Sommer 1949 seine Tätigkeit in Wiesbaden auf. Offiziell erhielt die FSK ihre Kontrollbefugnis im September 1949 durch die Alliierten Militärbehörden. Der Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes vom 23.05.1949 garantierte ein Verbot einer staatlichen Vorzensur. Im Art. 5 Abs. 2. werden zugleich Einschränkungen des Freiheitsrechtes formuliert, die in allgemeinen Gesetzen, insbesondere denen zum Schutze der Jugend, liegen. Die Prüfung durch die FSK stellt eine freiwillige Selbstverpflichtung seitens der Filmwirtschaft dar. Vgl. Gottberg 1999, S. 37.
8 Vgl. Pretzel 2010, S. 29.
9 Vgl. ebd. 2010.
10 Vgl. Dokumente zur Produktionsgeschichte, Dokument 2 u. hierzu auch Volk 2011, S. 116.
11 Dokumente zur Produktionsgeschichte, Dokument 2.
12 Ebd.
13 Vgl. hierzu weiter auch Volk 2011.
14 Stuttgarter Nachrichten, 29.10.1957, S. 14, Hervorh. i. Orig.
15 Vgl. Stuttgarter Nachrichten, 28.10.1957, S. 12 und Stuttgarter Zeitung, 28.10.1957.
16 Stadtarchiv Stuttgart 2111, Nr. 158.
17 Stadtarchiv Stuttgart 2111, Nr. 158.
18 Stadtarchiv Stuttgart 18/1, 929, Niederschrift über die Sitzung des Jugendamtausschusses am 29.11.1957, Stuttgart, S. 1.
19 Es handelt sich um ein Filmstill, dass für die Presse und den Aushang in den Kinos gedacht war. Vgl. Edition Filmmuseum 2007, Zusatzmaterial. Am 29.10.1957 erscheint das Inserat nur noch in den Stuttgarter Nachrichten, allerdings mit einem weniger expliziten Foto des heterosexuellen Liebespaares.
20 Vgl. Stuttgarter Zeitung, 30.10.1957, S. 17 sowie Stuttgarter Nachrichten, 30.10.1957, S. 14.
21 Stadtarchiv Stuttgart 18/1, 929, Niederschrift über die Sitzung des Jugendamtausschusses am 29.11.1957, Stuttgart, S.1.
22 Vgl. Stuttgarter Zeitung, 2.11. 1957, S. 13, Stuttgarter Nachrichten, 2.11.1957, S. 7.
23 Vgl. Stuttgarter Zeitung, 2.11. 1957, S. 13.
24 Leserbrief von Horst Stern von Walther, Stuttgarter Nachrichten, 6.11.1957, S. 14.
25 Vgl. hierzu Stadtarchiv Stuttgart 2111, Nr. 158.
26 Vgl. Steinle 1998, S. 32. Siehe auch: Wolfgang Harthauser (Pseudonym für Reimar Lenz): Der Massenmord an Homosexuellen im Dritten Reich. In: Schlegel, Willhart S. (Hg.) (1967): Das grosse Tabu. München: Rütten und Loening.
27 Transkription des Audio-Interviews von Karl-Heinz Steinle mit Reimar Lenz vom 3.9.1996. Ich danke Karl Heinz Steinle für die Hinweise zum Harlan Interview und für die Auszüge des Interviews. Zu Reimar Lenz siehe Steinle 1998, S. 32.
28 ICSE, International Committee for Sexual Equality. Siehe hierzu auch Steinle 1997, S. 203.
29 Zu Johannes Werres vgl. Hergemöller 2001, S. 734f. u. Steinle 1997, S. 203.
30 Vgl. ICSE-Press. Deutschsprachiger Pressedienst des ICSE. Internationales Komitee für sexuelle Gleichberechtigung, Nr. 1/58, 15.02.1958, S. 4. Im Folgenden beziehe ich mich auf ein Dokument, das vermutlich weitgehend identisch mit diesem Interview sein dürfte. Es trägt den Titel „§ 175 – Anders als Harlan und die FSK. Da wird geändert, und du weißt nicht wie“ und den Untertitel „ICSE-Press interviewte Veit Harlan am 26. Januar 1958 in Starnberg a.S.“. Es sind acht hektografierte und mit einer Klammer geheftete maschinengetippte Seiten. Urheber ist die ICSE-Press. Das Dokument befindet sich im Schwulen Museum, Bestand „die runde“.
31 Vgl. hierzu Hergemoller 2001, S. 734f.
32 Ebd.
33 Reinhold; Weißenhagen 1958, S.
34 Ebd., S. 4.