„§ 175: Wenn ein Mann mit einem Mann …“ Zum Gedenken an die Opfer der Homosexuellenverfolgung am 27. Januar 2018 im Stadthaus Ulm
von Dr. Nicola Wenge, Dr. Sabine Presuhn, Ulrich Seemüller und Josef Naßl
Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in Ulm
Der 27. Januar 1945 war der Tag der Befreiung des KZ- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Der verstorbene Bundespräsident Roman Herzog erklärte diesen Tag 1996 zum Nationalen Gedenktag, an dem der „Opfer des NS-Rassenwahns und Völkermords, der Millionen Menschen gedacht werden soll, die durch das nationalsozialistische Regime entrechtet, verfolgt, gequält oder ermordet wurden. Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“.1 Um diese Erinnerung in Ulm und Neu-Ulm nicht nur wach zu halten, sondern so konkret wie möglich die lokalen Dimensionen der Verfolgungen in den Fokus zu rücken und so an unsere Lebenswelt anzubinden, bildete sich der Arbeitskreis 27. Januar, der bereits 1997 die erste Gedenkveranstaltung im Ulmer Stadthaus ausrichtete und seitdem jährlich mit wechselnden Schwerpunkten an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert.
Im Arbeitskreis arbeiten Vertreterinnen und Vertreter aus den Städten Ulm und Neu-Ulm mit, Vertreterinnen und Vertreter beider Stadtarchive, des Stadthauses Ulm, der besonders mit der Familie Scholl und der „Weißen Rose“ verbundenen Ulmer Volkshochschule, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V., der Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus VVN-BdA Ulm und nicht zuletzt des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg, KZ-Gedenkstätte. Diesem Arbeitskreis ist es ein großes Anliegen, nicht nur die kaum fassbare historische Dimension der Greultaten zu beschreiben, sondern immer auch die Bezüge zu unserer Gegenwart herzustellen.
Die Verfolgung von Homosexuellen als weißer Fleck der Stadtgeschichte
In der lokalen Stadtgeschichte ist die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus bislang ein weißer Fleck. Dies liegt vor allem daran, dass bisher keine Biografien erforscht sind und somit die Erinnerung eher im Allgemeinen und Unspezifischen liegt.
Der AK 27. Januar hat daher bei der Abendveranstaltung 2018 im Stadthaus Ulm erstmalig die Erinnerung an Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die im Nationalsozialismus wegen ihrer Homosexualität als „Gemeinschaftsfremde“ und „Entartete“ verfolgt, verurteilt und drangsaliert wurden, und von denen sehr viele in Konzentrations- und Arbeitslagern ermordet wurden. Die Verfolgung endete 1945 nicht, vielmehr gingen gesellschaftliche Ausgrenzung und strafrechtliche Verfolgung weiter. Daher wurde auch diese, die bundesrepublikanische, Verfolgung kritisch thematisiert. Ein Anstoß diese Opfergruppe in den Blick zu nehmen war auch das landesweite Forschungsprojekt LSBTTIQ in Baden und Württemberg2 sowie durch das Engagement von Ehrenamtlichen entstanden Onlineplattform „Der Liebe wegen“3.
Dr. Julia Munier beleuchtete als ausgewiesene Expertin zum Thema in ihrer wissenschaftlichen Einführung die Lebenswelten von Homosexuellen in Ulm und Baden-Württemberg in den 1920er Jahren sowie die Kontinuität der strafrechtlichen Verfolgung von der Weimar Republik bis in die Bundesrepublik. Und sie zeigte die radikale Verfolgung im Nationalsozialismus.
Eine Lesung auf Grundlage von Recherchen des AK 27. Januar im Staatsarchiv Ludwigsburg beleuchtete die NS-Verfolgung in Ulm. Hier wurde vor allem der Bestand der Staatsanwaltschaft im Landgericht Ulm (StA Ludwigsburg E 352), in dem die Prozessakten der Anklagen nach § 175 enthalten sind, berücksichtigt. Nach Durchsicht des Findbuches wurden dann all jene Akten gesichtet, die als Verurteilungsgrund den § 175, „widernatürliche Unzucht“, „Unzucht mit Männern“, „Sittlichkeitsverbrechen“ oder auch „unsittliches Verhalten“ angaben. Aus diesen weit über 200 Akten konnten ca. 20 relevante Fälle herausgefiltert werden. Schließlich konnten anhand der Prozessakten von drei Angeklagten verschiedene Aspekte der Verfolgung schlaglichtartig herausgearbeitet werden. Dazu wurden historische Hintergrundinformationen, Auszüge aus den Verfolgungsdokumenten (Ermittlungsakten, Verhörprotokolle) und Zeugnisse der Verfolgten aus den Akten miteinander verwoben.
Erheblicher Ermittlungsaufwand zur Verfolgung von Homosexuellen
Am Beispiel von Friedrich Gruhler kann der Verfolgungseifer der Behörden, der weit über den „Dienst nach Vorschrift“ hinausging und tief in das Privatleben der Betroffenen eingriff, gezeigt werden.
Friedrich Gruhler wurde am 13. Februar 1891 in Oberndorf a. N. als Sohn eines Mühlenbesitzers geboren. Nach dem Besuch der Volksschule und eines Gymnasiums in Göppingen, das er mit der mittleren Reife abschloss, absolvierte er eine kaufmännische Lehre bei der Firma Daniel und Jäger in Stuttgart. Bei dieser Firma arbeitete Gruhler als Buchhalter bis zu seiner Einberufung als Soldat im Ersten Weltkrieg. Er diente im 12. Bayrischen Infanterieregiment in Neu-Ulm, mit dem er „ins Feld rückte“. Während des Krieges wurde er mehrfach verwundet und erhielt acht Kriegsauszeichnungen, darunter das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst im Dezember 1918 war Gruhler an mehreren Stellen in Stuttgart und Mesum in Westfalen tätig. Im Januar 1926 zog er nach Biberach an der Riss, wo er bei einer Pelzhandlung als Prokurist angestellt war. 4
Im August 1934 wurde Friedrich Gruhler das erste Mal bei der Kripo Ulm wegen seiner Homosexualität angezeigt. Am 9. Januar 1940 verurteilte ihn das Landgericht Ravensburg wegen „9, darunter 7 fortgesetzten Vergehen der Unzucht zwischen Männern im Sinn der §§ 175, 74 StGB“5 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, auf die die Untersuchungshaft von 4 Monaten und 15 Tagen angerechnet wurde, sowie zu den Kosten des Verfahrens. In der Urteilsbegründung hieß es:
„Infolge seines starken Triebes verbunden mit seinen wirtschaftlichen Mitteln, wozu auch die Möglichkeit der Benützung eines Kraftwagens gehört, bildet der Angeklagte eine sittliche Gefahr für die Männerwelt. Die Gleichgeschlechtlichkeit ist teils zu Gunsten des Angeklagten zu bewerten, weil sie angeboren ist und ihn an der normalen Befriedigung des Geschlechtstriebs mit einer Frau hindert, andererseits aber spricht sie auch zu seinen Ungunsten, weil sie seine Hemmungen gegen den widernatürlichen Verkehr mindert.“6
Diese Strafe büßte Gruhler im Gefängnis in Ulm bis auf zwei Monate ab. Er wurde im August 1940 vorzeitig auf Bewährung entlassen, die Bewährungsfrist auf Oktober 1943 angesetzt. Doch Anfang 1941 geriet Gruhler wieder in die Mühlen des NS-Verfolgungsapparats. Am 18. Januar hatte ein Soldat der Stuttgarter Gestapo gemeldet, dass Gruhler ihn zu einem Treffen nach Ulm eingeladen habe. Die Stapoleitstelle Stuttgart ordnete daraufhin Gruhlers persönliche Überwachung durch die Außendienststelle Ulm an. Gruhler verbrachte vom 18. bis zum 20. Januar nichtsahnend zwei Tage mit seinem Denunzianten. Ihre gemeinsamen Kino-, Café-, Gaststätten- und Hotelaufenthalte wurden minutiös von der Ulmer Gestapo beobachtet:
Unter dem Kapitel „Erforschung des Sachverhalts“ heißt es im Bericht der Geheimen Staatspolizei Stuttgart, Außendienststelle Ulm, vom 20. Januar 1941: „Nach Einnahme eines kurzen Frühstücks begaben sich beide wieder auf das Zimmer des Beschuldigten, wobei Kriminalassistent Viktor Hallmayer von der Außendienststelle Ulm beobachtete, wie der Beschuldigte mit dem Gefreiten F. in einem Klubsessel sass.“7
Am späten Nachmittag des 20. Januar wurden die beiden dann von der Gestapo kontrolliert und zu einer Vernehmung in den Neuen Bau, dem Sitz der Ulmer Gestapo, geführt: „Nach einer kurzen Vernehmung des Zeugen F. wurde dem Beschuldigten die vorläufige Festnahme erklärt und in das Amtsgerichtsgefängnis Ulm eingeliefert.“8
In seiner Gerichtsakte befindet sich eine bemerkenswert offene Zeugenaussage von Friedrich Gruhler. Nachdem er mit der Aussage des Denunzianten konfrontiert wurde, heißt es in seiner Aussage vom 20. Januar: „Ich gebe zu, dass ich den Zeugen F. in Reutlingen kennengelernt habe und mit ihm auf schriftlichem Wege auch eine Zusammenkunft auf verflossenem Samstag, den 18.1.1941 nach Ulm ausmachte. […] Die Angaben von Fortenbacher entsprechen so ziemlich der Richtigkeit und ich werde auf die einzelnen Angaben noch weiter eingehen. Bevor ich dies jedoch mache, möchte ich hinsichtlich meiner Veranlagung folgendes sagen: Über meine Veranlagung bin ich mir erst im Grunde genommen nach dem Weltkrieg klar geworden. Nachträglich erinnere ich mich, dass ich schon als Kind gerner [sic] mit Kindern männlichen Geschlechts spielte, als mit Mädchen. Ich war z. B. sehr stolz auf meine Mutter, dass sie keinen ausgeprägten Busen hatte. Weiter entsinne ich mich eines Ausspruchs des damaligen Hauptlehrers Raff in Oberndorf, der zu seinen Kirchenchorsängern sagte, der Fritz sieht aus wie ein junges Mädchen, als ich einmal während meiner kaufmännischen Lehrzeit gerade zu Hause in die Kirche ging. […] Abschließend möchte ich zu der Begegnung mit dem Gefreiten F. sagen, dass ich ihn eingeladen habe, um wenigstens über den Sonntag einen Menschen zu haben, mit dem ich mich unterhalten kann, da ich die ganze Woche allein bin. Dabei hatte ich schon die Absicht mit F. einen meiner Natur und meinem Liebesbedürfnis entsprechenden Verkehr mit ihm durchzuführen, sofern F. den ersten Anlass dazu gegeben hätte beziehungsweise auf mein Vorfühlen dementsprechend reagiert hätte. Da aber die Gegenliebe bei meinen wiederholten Umarmungen des F. von Seiten diesem ausblieb, kam es zu einer sexuellen Befriedigung meinerseits nicht.“9
Mit der Begründung, dass Gruhler hinreichend bekannt sei und die Überwachung gezeigt habe, dass er keine Gelegenheit auslasse, um seine Unzuchtshandlung zu vollziehen, wurde er vorläufig festgenommen und zunächst einige Tage im Gefängnis Frauengraben in Ulm gefangengehalten, bevor er in das Ulmer Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert wurde. Nach einer Durchsuchung seiner Wohnung bat die Ulmer Gestapo den „Herrn Oberstaatsanwalt in Ravensburg“ um Aufhebung der Bewährungsfrist. Der Bericht endet mit den Worten: „Da bei Gruhler noch verschiedene Anschriften von Soldaten vorgefunden wurden, müssen diese von hier aus hinsichtlich ihrer Beziehungen zu Gruhler noch vernommen werden. Es wäre deshalb gut, wenn der Beschuldigte wegen Verabredungs- und Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft genommen würde.“10
Die vorgefundenen Anschriften reichten der Ulmer Gestapo in ihrem Verfolgungseifer jedoch nicht. Sie wies Ende Januar 1941 die Gemeindepolizeibehörde Biberach und das dortige Postamt an, alle an Gruhler adressierte Briefe zu ihren Händen nach Ulm zu schicken. Die Gemeindepolizeibehörde schickte am 14. Februar 3 Postkarten und 1 Brief an die Staatsanwaltschaft am Landgericht Ulm weiter. Alle Männer, die in schriftlichem Austausch mit Gruhler standen, wurden vorgeladen, ihre Wohnungen ebenfalls durchsucht. Sie alle wurden unter Verdacht gestellt und liefen Gefahr, nach § 175 zu einer Gefängnis- oder KZ-Haft verurteilt zu werden. So auch Josef K. aus Friedrichshafen. Er hatte am 10. Februar 1941 an Friedrich Gruhler geschrieben, nicht ahnend, dass sein Brief abgefangen wurde: „Lieber Freund Gruhler! Muss dir nun kurz berichten, dass ich vergangene Woche das Missgeschick gehabt habe, den alten Leidensweg zu gehen. Wurde jedoch vom Amtsrichter in Tettnang auf freien Fuss gesetzt. Lieber Freund, ich wusste wieder wie schnell man dort ist. Sei also vorsichtig, ohne Grund kann Anzeige gemacht werden. Ich erzähle dir später alles. Weisst ich bin ganz krank geworden, obwohl ich diesmal menschlich behandelt wurde. Wann treffen wir uns wieder!“11
Im April 1941 verurteilte das Landgericht Ulm Gruhler zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten, worauf 14 Tage der Untersuchungshaft und 61 Tage Reststrafe anzurechnen sind. In der Urteilsbegründung von Richter Heinrich heißt es: „Bei der Strafzumessung wurde erwogen, dass die Unzuchtshandlungen nicht besonders schwerer Art waren, dass der Angeklagte seine Tat ohne jede Beschönigung unumwunden eingeräumt hat, dass er im Weltkrieg ein tapferer Soldat war und dass er auch im Zivilberuf Tüchtiges leistete. Andererseits muss aber strafverstärkend berücksichtigt werden, dass er kaum aus dem Gefängnis entlassen, seinem unnatürlichen Trieb wieder nachgegeben hat. Eine Gefängnisstrafe von 3 Monaten erschienen eine angemessene Sühne.“12
Prozessakten als Ausdruck der Verfolgerperspektive
Die Erforschung von Friedrich Gruhlers Biografie sowie die anderer Opfer anhand der staatlichen Quellen gestaltetet sich schwierig.
Enthalten sind in den Prozessakten unter anderem Protokolle der polizeilichen Ermittlungen, Zusammenfassungen der Vernehmungen und schließlich die Urteile. Diese Akten sind aus der nationalsozialistischen Verfolgungsperspektive verfasst und entsprechend quellenkritisch zu interpretieren. Sie zeugen von der akribischen Durchleuchtung der intimsten Privatangelegenheiten der Opfer, von der Vorverurteilung durch die ermittelnden Beamten und dem erheblichen Druck, der auf die Angeklagten ausgeübt wurde. Diese „Täterperspektive“ lässt kaum Rückschlüsse auf die Perspektiven und die Biografien der verurteilten Männer zu. Zumal die Akten nur einen kurzen Ausschnitt der Verfolgung dokumentieren. Allenfalls durch Selbstaussagen der Angeklagten und durch beigefügte Beweismittel wie Briefe oder Telegramme lässt sich ein breiteres Bild rekonstruieren.
Liebesbriefe als besonderes Zeugnis der Verfolgten
Einen besonderen Fund bei der Recherche im Staatsarchiv Ludwigburg stellen die Liebesbriefe des Italieners Fermo Grignaffini dar, die als Beweismittel im Prozess gegen ein weiteres Opfer der Verfolgung, den Ulmer Kurt Mehrhardt, dienten. Entgegen der Versuche des Nationalsozialismus, Homosexualität zu kriminalisieren und zu pathologisieren, setzen sie ein großes Zeichen des alltäglichen Lebens und der Liebe.
„Da Busseto, 28. Mai 1933, zehn uhr vor.
Mein lieber Curt,
ich erwarte Heute einen Brief von dir, und ich bin nach Busseto absichtlich gekommen, weil es ist drei Tage, dass ich mit dir mich unterhalten nicht kann. Ich habe dir Dienstag und Donnerstag geschrieben, hast du meine Briefe erhalten? Ich habe dir schon gesagt, dass du meine Lebe bist und wie kann ich ohne deine Briefe leben? Du gibst mir die Glück, wenn du mir schreibst und deine liebsten Briefe geben mir den Muth zu erwarten und leben. (Ich bin niemals romantisch gewesen). Jetzt liebe ich dich und kann ich ohne dich nicht leben. Diesen Morgen habe ich alle deine Briefe wieder gelesen! Sie gefallen mir alle immer mehr. Bitte schreibe mir bald. Ich grüsse und küsse dich …
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Fidenza, 30. Mai 1933
Mein lieber Curt,
ich habe gestern deinen lieben Brief erhalten und ich danke dir sehr dafür. Du sagst mir, dass du nach Ulm am 1. Juli sein müssen wirst und dass du nur 4 oder 5 Tage Ferien bekommen hast. Schade! Weil ich auf deiner Aufenthalt in Viareggio zählte. Ich war gestern den ganzen Tag sehr traurig deswegen. Aber ich hoffe diesen Sommer in Ulm dich wieder zusehen! Ich werde alles zu machen um währends meiner Ferien 3 o. 4 Tage zu dir kommen, weil am Ende Juni in die Schweiz nicht gehen kann. Denn noch glaube ich, dass es ein wenig schwer den Reisepass zu bekommen sein wird. Wie schwer und schmerzvoll unsere Liebe ist!! Ich bin sehr traurig und entmutigt dafür! Ich fürchte dir Zeit verlieren zu machen und ich weiss, dass du matt werden wirst. […]Schreibe mir bitte darüber! Ich schreibe deutsch sehr schlecht, und du wirst, wie ich jetzt dich liebe, niemals begreifen.Tausend und tausend Küsse und Grüße von deinem treuen FERMO
P.s. Ich verstehe gut und alles was du schreibst und es mache mir keine Mühe weil ich der ersten Lektüre alles begreife.“
„Busseto, 21. Juni 1933 – sieben Uhr nachmittags
Mein lieber, guter, schöner Curt!
Erstens küsse dich sehr, sehr!! Ich erhalte deine liebe Karte vom 19. und ich danke dir sehr dafür. Du bist immer sehr artig und liebreich, und das gefällt mir sehr. Gestern habe ich dir nur eine Karte geschrieben und auch Heute hätte ich keine Zeit, aber ich will mit dir ein wenig zu sprechen. Du musst nicht traurig sein, weil ich nach Milano fuhr, dort habe ich nichts gemacht, dass es dir misfallen kann. Du weisst, dass ich das Fraulein von Milano nicht mehr liebe, und natürlich habe ich es nicht gesehen und niemand hat mit mir geschlaft. Bist du zufrieden? Für den Pass habe ich etwas in eine Reiseagentur gefragt, aber man hat mir wie in Fidenza geantwortet. Ich habe dir schon gesagt, dass ich auch das Polizeiamt von Parma interessiert habe, aber ich habe noch keine Antwort erhalten. Du furchtest dass ich dich vergesse! Es ist unmöglich!! Ich denke immer, immer an dich in alle Momente und ich wünsche immer dich näher mir zu haben. Du bist meine erste Liebe und meine ganze Lebe. Begreifst du? Heute muss ich in Busseto bleiben, und hier habe ich keine Wörterbuch, aber Morgen hoffe ich nach Hause bald zurückkommen und ich werde dir einen anderen Brief schreiben. Ich bin jetzt sehr müde, aber ich habe fast alle meine Arbeit vollendet und dann werde ich deutsch wieder lernen können. Zaniboni ist mein Freund von Busseto, er hat auch andere Karten von mir untergeschrieben. Für heute schliesse ich diesen Brief. Viele Grüsse und tausend, tausend Küsse von deiner treuer dich liebender FERMO“13
Die Radikalisierung der Verfolgung im KZ-System
Liebesbriefe wie diese wurden von der Gestapo mit enormem Verfolgungseifer als belastendes Material zusammengetragen. Dabei radikalisierte sich die Verfolgung von Homosexuellen durch das NS-System seit Mitte der 1930er Jahre dramatisch. Obwohl es schon bald nach Beginn des Nationalsozialismus Einlieferungen von Schwulen in Konzentrationslager gegeben hatte, kam es nach der Gründung einer „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“ 1936 und im Zuge der Ausweitung des KZ-Systems immer häufiger vor, dass Männer, die nach § 175 verurteilt worden waren und erneut „auffielen“, in ein KZ eingeliefert wurden. Neuere Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 6.000 Männer explizit wegen ihrer Homosexualität in einem KZ inhaftiert wurden. Dabei soll die Todesrate im Vergleich zu anderen Häftlingsgruppen enorm hoch gewesen sein.
Die Biographie des Ulmers Friedrich Haug, des dritten Opfers, das wir in unserer Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2018 vorgestellt haben, zeugt von dieser sich radikalisierenden, tödlichen Verfolgungspraxis. Seine Biographie wurde Großteils von Rainer Hoffschildt recherchiert und ist auf der Website „Der Liebe wegen“14 veröffentlicht.
Friedrich Haug wurde am 15. September 1914 in Ulm an der Donau geboren und evangelisch getauft. Nach dem Besuch der Mittelschule absolvierte Haug eine Feinmechanikerlehre bei der Firma Baitinger in Ulm. Da seine Lehrfirma 1932 – zum Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise – in Konkurs ging, trat Haug 18-jährig eine Beschäftigung als Hilfsarbeiter bei der Kohlenhandlung Müller an.
Im März 1933 verurteilte das Landgericht Ulm Friedrich Haug wegen eines Strafdelikts zu einer Gefängnisstrafe. Nach seiner Freilassung im Juli 1934 arbeitete der gelernte Feinmechaniker zunächst wieder in Ulm, verließ aber bald seine Heimatstadt, um in Berlin, Budapest und Wien sein Glück zu suchen, bevor er im März 1938 wieder nach Ulm zurückkehrte. Im Mai des gleichen Jahres wurde Haug wegen „der gewerbsmäßigen Unzucht mit Männern, wegen des versuchten Betrugs und wegen versuchter Erpressung“ zu einer zweiten Haftstrafe über 18 Monate verurteilt.
Friedrich Haug hatte also zwei Vorstrafen, als das Amtsgericht Stuttgart den 25-Jährigen am 18. Juli 1940 wegen „widernatürlicher Unzucht“ zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilte, abzüglich von sechs Wochen Untersuchungshaft.
Zur Strafverbüßung transportierte man ihn aus dem Gefängnis Mannheim am 19. September 1940 zur Schwerstarbeit in das Strafgefangenenlager Rodgau, Lager II, in Niederroden in Hessen. Dort beschrieb man ihn beim Zugang wie folgt: 1,85 m groß, schlanke Gestalt, rasiert, dunkelbraune Augen und schwarzes Haar. Auf seiner Karteikarte vermerkte man zu seinem Strafende am 7. Dezember 1941 nur „nach Zweibrücken“. Tatsächlich dürfte man ihn nicht in die Freiheit entlassen, sondern der Polizei übergeben haben. Diese transportierte ihn auf Anweisung der Kriminalpolizei Augsburg am 2. Februar 1942 in das KZ Flossenbürg in Bayern, wo man ihn zur Nummer 3.232 machte. Weiter wurde Haug am 3. September 1942 in das KZ Groß-Rosen in Schlesien verschleppt und schließlich etwa im November 1942 in das KZ Sachsenhausen, wo er die Häftlingsnummer 52.452 erhielt. Friedrich Haug verstarb am 14. August 1943 im KZ Sachsenhausen im Alter von nur 28 Jahren. Die Todesursache ist nicht bekannt, sie dürfte aber in den Strapazen der jahrelangen Haft und Zwangsarbeit und der chronischen Unterversorgung im KZ zu finden sein.
Kontinuität der Homosexuellenverfolgung in der Bundesrepublik
Um auch die Verfolgung von Homosexuellen nach 1945 zu thematisieren, führte Dr. Nicola Wenge im Anschluss an die Lesung ein Podiumsgespräch mit Dr. Julia Munier, dem ehemaligen Richter Klaus Beer sowie dem Zeitzeugen Helmut Kress. Das Gespräch zeigte unter anderem, dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung von Homosexuellen auch in der Bundesrepublik und der DDR trotz der Gesetze zur „Rehabilitierung“ genauso wie die Akzeptanz von nicht der Norm entsprechenden sexuellen Identitäten noch am Anfang steht.
Gedenkveranstaltung als Impuls für weitere Forschung?
Die Ulmer Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2018 stellte nur einen kleinen Punkt auf dem noch weißen Fleck der Ulmer Erinnerungslandschaft dar. Um die NS-Verfolgung umfassender zu erforschen, wäre eine Sichtung der wesentlich umfangreicheren Bestände des Amtsgerichts Ulm nötig, die leider nur unzureichend erschlossen sind. Zudem müsste die Kontinuität der Verfolgung vor 1933 und nach 1945 in den Blick genommen werden. Unzureichend ist auch die Verengung auf die Verfolgungsperspektive, die die Vielfalt im Leben und Lieben ausblendet und Biografien nur in Ausschnitten betrachtet. Eine Erforschung homosexueller Lebenswelten wäre auch auf lokaler Ebene in Ulm äußerst wünschenswert. Wir hoffen, dass wir durch die Gedenkveranstaltung einen Impuls geben konnten.
Fussnoten
1 Proklamation des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, 1996.
2 https://www.lsbttiq-bw.de
3 https://www.der-liebe-wegen.org/
4 Vgl.: Aussage Friedrich Gruhlers. StA Ludwigsburg E 352 Nr. 6507
5 StA Ludwigsburg E 356 g Bü 3776
6 StA Ludwigsburg E 352 Nr. 6507, Blatt 10
7 StA Ludwigsburg E 352 Nr. 6507, Blatt 2f
8 ebenda
9 StA Ludwigsburg E 352 Nr. 6507, Blatt 17f
10 StA Ludwigsburg E 352 Nr. 6507, Blatt 29
11 StA Ludwigsburg E 352 Nr. 6507, Blatt 45
12 StA Ludwigsburg E 352 Nr. 6507, Blatt 72
13 Die Liebesbriefe sind als Beweismittel im Verfahren gegen Kurt Mehrhardt beigelegt; StA Ludwigsburg E 352 Nr. 1328
14 https://www.der-liebe-wegen.org/?profil=friedrich-haug, Abruf 29.01.2018