From dusk till dawn – Für vielfältige Geschichten

From dusk till dawn – Für vielfältige Geschichten

Veronika Springmann zum 27. Januar 2020, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und International Holocaust Remembrance Day

Während der Recherche für das DFG Forschungsprojekt „Homosexuellenbewegung und Rechtsordnung“ bin ich im Generallandesarchiv Karlsruhe auf eine Akte gestoßen, in der ein Mann aus einem badischen Dorf 1936 wegen Vergehens gegen den § 175 StGb angeklagt wurde. Im Verlauf des Ermittlungsverfahrens gegen den Mann wurden viele Zeugen*innen aufgerufen und weitere Verfahren begonnen. Übliche Ermittlungspraxis war es, den Angeklagten nach Namen von weiteren Männern zu fragen, gegen diese dann wiederum Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Dieser Dominoeffekt war bei dieser Akte besonders augenfällig, und es entsteht beim Lesen der Eindruck, als ob es vor allem nachts zwischen zahlreichen Männern des Dorfes zu vielfältigen intimen Begegnungen kam.

Bei dem Angeklagten handelte es sich um Ferdinand Löb (geb. 1864). Der über Siebzigjährige war verheiratet, hatte einen Sohn und war Inhaber der örtlichen Bäckerei in Malsch. In der Ermittlungsakte wurde erwähnt, dass er auch der ‚Schlemmer-Bäck‘ genannt wurde.

Laut der Ermittlungsakte pflegte Ferdinand Löb sexuelle Kontakte mit anderen Männern des Dorfes, unter anderem mit Karl Muck, der ihn erpresste. Anzeige erstattet wurde allerdings vom Polizist des Dorfes, dem Oberwachtmeister Adolf Horcher. Dessen Schilderung, wie er zu diesem Wissen kam, lässt darauf schließen, dass es einen regen Informationsfluss gab. Horcher gab an, im selben Haus zu wohnen wie Walter Pister, einem Mitglied der SA. Dieser wiederum hatte die Informationen über die sexuellen Begegnungen des Ferdinand Löb aus einer anderen Quelle. Involviert waren also verschiedene Männer, die sich nicht nur sexuell begegnet sind, mindestens aber miteinander darüber gesprochen – oder wie es im Dialekt heißt: „getratscht“ – haben. Ob diese Gerüchte mit gezielt gestreut wurden, um Ferdinand Löb anzuzeigen, oder zufällig, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive sind diese Kommunikationswege deswegen interessant, weil Gerüchte oder Gossip lange als „Women’s Talk“ oder „Weibergeschwätz“ bezeichnet wurden.1 Durch die Ausführungen Horchers in seinem Ermittlungsprotokoll, entsteht jedoch der Eindruck, als ob ständig über Sex, bzw. den von Ferdinand Löb mit Karl Muck und anderen Männern, gesprochen wurde. Warum Horcher sich zu diesem Zeitpunkt für eine Anzeige entschied, obwohl er, wie er selbst zu Protokoll gab, schon länger von den Treffen Löbs wusste, kann ich nur vermuten.

Ferdinand Löb war Jude; das wird in der Akte explizit gemacht. Malsch, ein Dorf in Baden-Württemberg, liegt zwischen Karlsruhe und Rastatt. Der Verein „heimatfreunde malsch e.v.“ zeigte 2008 eine Ausstellung zum „Jüdischen Leben in Malsch“, die in der Zeitschrift „Malscher Historischer Bote“ dokumentiert ist. Seit 1885 gehörte die Jüdische Gemeinde des Dorfes zum Rabbinatsbezirk Bühl. 1933 haben in der Gemeinde knapp 100 Jüd*innen gelebt.2 Die jüdische Bevölkerung beteiligte sich, wie in anderen Dörfern auch, rege am lokalen Leben, einige Jüd*innen besaßen Geschäfte oder Gasthäuser, nahmen am öffentlichen Leben teil und gestalteten dieses aktiv mit. Daher drängt sich die Frage auf, ob die Gerüchte um die sexuellen Begegnungen von Ferdinand Löb durch die zunehmenden antisemitischen Maßnahmen und Gesetzgebungen nicht eine andere Virulenz erhalten haben. Zum Zeitpunkt der Verhaftung Ferdinand Löbs waren die Nürnberger Gesetze bereits in Kraft.3 Diese bestanden aus zwei Gesetzen. Das sog. Blutschutzgesetz oder auch „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot die Ehe zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen und verbot den außerehelichen Geschlechtsverkehr. Mit dem Reichsbürgergesetz wurde festgelegt, dass jüdische Staatsangehörige nicht mehr als Reichsbürger galten.

Artikel über Ferdinand Löb aus der Badischen Presse (Karlsruhe) vom 16. Mai 1937

Ferdinand Löb bestätigt die ihm zur Last gelegten sexuellen Handlungen, die nicht nur mit dem erwähnten Karl Muck, sondern auch „seit ungefähr 2-3 Jahren mit weiteren Männern des Dorfes“ stattgefunden hatten. Im Rahmen der Ermittlungen wurde er zudem vom Gesundheitsamt Rastatt befragt und untersucht, das einen „Mangel an moralischen Hemmungen“ attestierte. Das Gericht in Karlsruhe verurteilte Ferdinand Löb schließlich am zu elf Monaten Gefängnis. Am 27. Juli 1938 emigrierte er zusammen mit seiner Ehefrau Florentine Löb in die USA.4 Sein Sohn, Alfred Löb, übernahm die Bäckerei, wurde jedoch schon einige Monate später während der Novemberpogrome in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Ihm gelang es 1939 mit seiner Frau und den beiden Kindern in die USA auszuwandern.

In den Archiven finden sich viele solcher Geschichten5, die das Wissen um queere Geschichte oder einer Geschichte der Verfolgung von Homosexualität erweitern. Die Akte über Löb gibt wertvolle Einblicke darüber, wie im 20. Jahrhundert Beziehungen auf dem Lande gelebt wurden. Und damit meine ich nicht nur mann-männliche sexuelle Begegnungen, die – folge ich den Ermittlungsakten – doch offenbar zahlreich an Abenden und Orten wie den örtlichen Gasthäusern oder Ställen stattgefunden haben. Beziehungen beinhalten auch die Gerüchte und das Sprechen über Sexualität, denn dies lässt erkennen, dass viel und intensiv miteinander gesprochen wurde. Ob an diesen Gesprächen nur Männer teilgenommen hatten oder auch Frauen, die ja oft in den Ställen tätig waren, wissen wir nicht. Wie sich dieses Sprechen veränderte und ab wann es – wie im vorliegenden Fall – eventuell durch den zunehmenden Antisemitismus und die nationalsozialistische Politik denunziatorisch wurde, sind noch offene Fragen.

Eine alltagsgeschichtliche Analyse von Sexualitäten muss auch die versteckten Begegnungen in den Blick nehmen. Die Begehrensweisen, die aufgrund ihrer Kriminalisierung6 in der Nacht gelebt werden mussten, geben nicht nur Aufschluss über Verfolgungspraktiken gegenüber Homosexuellen, sondern sind ein wichtiger Bestanteil einer inklusiven Geschichtsschreibung, die nicht ein weiteres Mal marginalisiert und ausgrenzt. In ihren Überlegungen zu „Queere Geschichte und Holocaust“ merkte die Historikerin Anna Hájková an, dass es uns mit eine Geschichte Sexualitäten gelingt, einiges über „eine Gesellschaft, ihre Kultur, ihre Werte und Logiken“ zu lernen.7 Dem stimme ich zu, und möchte hinzufügen, dass gerade Alltagsgeschichten und (nicht nur) Geschichten dörflicher Wissens- Kommunikations -und Beziehungsstrukturen anders geschrieben werden könnten.

Veronika Springmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Homosexuellenbewegung und Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland“ und schreibt für dessen Webseite „History Sexuality Law. Verschränkung von Recht und Sexualitätim historischen Kontext„.

1 Vgl. bspw. Melanie Tebutt, Women’s Talk? A Social History of ‘Gossip’ in Working-Class Neighbourhoods, 1880-1960, Aldershot 1995;

2 Vgl. Franz Hundsnurscher, Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Stuttgart 1968, S. 185; Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden, Hamburg 2000.

3 Vgl. Durchführung des Reichsbürgergesetzes, Malsch, den 26. November 195, abgedruckt in: Malscher Historischer Bote. Jüdisches Leben in Malsch, Malsch 2009, S. 124.

4 Malscher Historischer Bote. Jüdisches Leben in Malsch, Malsch 2009, S. 219. Viele mann-männlich begehrende Männer waren zu dieser Zeit verheiratet.

5 In den Archiven lassen sich diese Akten unter den Stichworten „widernatürlich Unzucht“, „Unzucht Männer“ oder § 175 finden.

6 Seit der Einführung des Strafgesetzbuches 1871 wurde die mann-männliche Sexualität durch den § 175 kriminalisiert; das nationalsozialistische Reichskabinett beschloss im Juni 1935 eine deutliche Verschärfung des Paragraphen.

7 Vgl. Anna Hájková, Queere Geschichte und Holocaust, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2018).

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