Julia Noah Munier zum heutigen Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie (IDAHOBIT)
Homophiles Engagement in der unmittelbaren Nachkriegszeit – wer war Emil Scheifele?
Er schrieb einen Brief an Konrad Adenauer, wollte schon 1947 vom Magistrat von Groß-Berlin wissen, wie es um die Abschaffung des § 175 bestellt war, kontaktierte Oberstaatsanwälte und hatte ein Netzwerk von Gleichgesinnten um sich: Der Stuttgarter Emil Scheifele. Wer war dieser Mann, den ein außergewöhnliches Engagement auszeichnet?1
Mit der Befreiung vom Nationalsozialismus standen die Zeichen für eine Abschaffung des § 175 StGB in der unmittelbaren Nachkriegszeit günstig und auch die Gültigkeit des § 175a StGB, der die sogenannten Qualifikationstatbestände betraf, stand zur Debatte.
Eine der ersten juristischen Institutionen, die sich nach 1945 mit einer neuen (Straf-)Gesetzgebung und auch mit den §§ 175, 175a StGB befasste, war der Juristische Prüfungsausschuss für Gesetzgebung und Gesetzanwendung in Berlin. Er empfahl dem Alliierten Kontrollrat – der aus den Militärgouverneuren der vier Besatzungszonen in Deutschland bestehenden obersten Besatzungsbehörde mit Sitz in Berlin – eine Streichung des § 175 StGB.2 Zudem legte der Ausschuss dem Kontrollrat eine Reform des § 175a StGB nahe: Die Höchststrafe sollte auf fünf Jahre Zuchthaus und das Schutzalter auf 18 Jahre festgesetzt werden.3
Diese Debatte um einen neuen Entwurf des Strafgesetzbuches war offenbar auch im deutschen Südwesten bekannt und wurde intensiv verfolgt. Denn die Situation des politischen Umbruchs verband sich für die betroffenen homo- und bisexuellen Männer mit der Hoffnung der § 175 möge gestrichen werden und die Entnazifizierung des Rechts möge sich in Freiheitsrechten für sie niederschlagen.
So verfolgte der in der Stuttgarter Alexanderstraße 149 lebende Emil Scheifele in der Erwartung einer Liberalisierung des Strafrechts die Aushandlungsprozesse in Berlin und die Entscheidung des Alliierten Kontrollrates. Am 15. September 1947 setzte er schließlich ein Schreiben an den Magistrat von Groß-Berlin auf und bat um Auskunft bezüglich der Kontrollratsentscheidung. Zwei Wochen später erhielt er Antwort:
„Es ist richtig, dass der Juristische Prüfungsausschuss bei der Beratung des neuen Gesetzesentwurfs für die Streichung des § 175 StGB eingetreten ist und diesen Vorschlag dem Kontrollrat eingereicht hat. Wie der Kontrollrat sich zu diesem Antrag stellen wird, wissen wir nicht und können auch keine Vermutung darüber aussprechen.“4
Scheifele musste wenig später einsehen, dass der Alliierte Kontrollrat der Empfehlung des Juristischen Prüfungsausschuss nicht folgen würde. Bereits mit den Kontrollratsgesetzen Nr. 11 vom 30. Januar 1946 – und dem Kontrollratsgesetz Nr. 55 vom 20. Juni 1947 entstanden maßgebliche Aufhebungsanordnungen zu NS-Strafgesetzen. Die Bestimmungen zur sogenannten widernatürlichen Unzucht – die §§ 175 und 175a StGB – zählten trotz der Empfehlung des Berliner Prüfungsausschusses schlussendlich nicht dazu.5
In Bezug auf die Verfolgung homo- und bisexueller Männer in den Jahren 1945 bis 1949 ist in der Forschung zeitweilig auch von einem „Strafrechtlichen Interregnum“ gesprochen worden.6 Dies trifft für Stuttgart allerdings nur bedingt zu. Schließlich verzeichnete die u.a. für „Sittlichkeitsverbrechen und -vergehen, Kuppelei, Zuhälterei, Dirnenwesen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ zuständige Dienststelle 6 der Stuttgarter Kriminalpolizei im Jahr 1948 genau 104 Anzeigen aufgrund von „widernatürlicher Unzucht“ und brüstete sich in der Kriminalstatistik mit einer Aufklärung von nahezu 100 Prozent.7 Ein Hinwirken auf eine baldmögliche Verbesserung des Status Quo und ein Einsatz für die Liberalisierung des Strafrechts war aus der Perspektive Emil Scheifeles und seiner Mitstreiter*innen also unbedingt weiter notwendig.
Der offenbar gut vernetzte Mann musste 1949 in Erfahrung gebracht haben, dass es von Seiten der sich gerade neu formierenden Homosexuellenbewegung Bemühungen gab, einen Aufmerksamkeitsraum für die im Blick auf die §§ 175, 175a StGB „gescheiterte Entnazifizierung des Rechts“ (Andreas Pretzel) zu schaffen. Mehr noch: Es galt erneut Initiative zu ergreifen, um eine Liberalisierung des § 175 maßgeblich voranzutreiben. So hatte ein Zeitgenosse Scheifeles, der gebürtige Karlsruher Willy Nillius (1892-1976), „[…] dem Parlamentarischen Rat in Bonn bereits im Juli 1949 eine Denkschrift zukommen lassen, in der er die Streichung des § 175 StGB ‚als gerechte Folge der Wiedergutmachung‘ forderte.“8
Dass es in dieser Hinsicht Bemühungen gab, auf den Parlamentarischen Rat diplomatisch hinzuwirken, musste auch Emil Scheifele zu Ohren gekommen sein. Nachdem Scheifele erfuhr, dass sich auch der Parlamentarische Rat mit den §§ 175, 175a befasst hatte, entwickelte er die Idee sich persönlich an Adenauer zu wenden, sollte das Gremium die Sache nochmalig besprechen. Unmittelbar vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit der Verkündung des Grundgesetzes setzte Scheifele am 15. Mai 1949 an den „Präsidenten des Parlamentarischen Rates und späteren ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) ein Schreiben auf, betreffend „Aufhebung der §§ 175, 175a StGB“.9 Scheifele leistete klassische Lobbyarbeit. Er fügte vier Anlagen bei, mit denen er beabsichtige, das Gremium zu einer informieren Entscheidung einer Streichung des § 175 zu befähigen. Hierzu gehörte ein Auszug der berühmten Petition des Wissenschaftlich-humanitären Komitees zur Abschaffung des § 175 sowie Exzerpte der WhK-Publikation „Gewichtige Stimmen über das Unrecht des § 175 unseres Reichsstrafgesetzbuchs“ (1913), die auch zahlreiche Stimmen aus dem deutschen Südwesten zu Wort kommen lässt.
Über sich selbst ließ er Adenauer wissen: „Seit Jahren kämpfe ich mit der Unterstützung gleichgesinnter Kameraden um die Befreiung der §§ 175 u. 175 a StGB.“10 Weiter bekundete Emil Scheifele: „Es liegt mir und meinen Kameraden fern, Unmoral oder Unsittlichkeit zu unterstützen. Wir fordern lediglich die gleichen Rechte und Freiheiten, wie sie das Gesetz jedem Bürger zugesteht. Der Homosexuelle ist nicht schlechter als der Heterosexuelle […].“11
Scheifele dürfte auf sein Schreiben vermutlich keine Antwort erhalten haben. Leider ist im Nachlass Adenauers, der sich in der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Bad Honnef-Rhöndorf, befindet, nach jetzigem Kenntnisstand weder ein Exemplar dieses Briefes noch ein mögliches Antwortschreiben Adenauers erhalten.
Über Emil Scheifeles Leben und seine Biographie ist derzeit kaum etwas bekannt. Seine Anknüpfungsversuche an die Homosexuellenemanzipationsbewegung der Weimarer Republik und sein bekundetes jahrelanges Engagement dürften darauf hindeuten, dass es sich eher um einen Mann in der Lebensmitte gehandelt hat. Scheifeles Schreiben ist zu entnehmen, dass er sicher kein Einzelkämpfer war. Wer waren die Personen denen er vertraute, die ihm Informationen zuspielten und mit denen er sich vernetzte? Mit welchen Akteuren der jungen Homophilenbewegung stand er im Kontakt?
Wissen Sie, wer Emil Scheifele war? Oder haben Sie Informationen zu seiner Biografie? Dann treten Sie bitte mit uns in Kontakt. Wir freuen uns über jeden Hinweis. Vielen Dank!
munier@hi.uni-stuttgart.de; karl-heinz-steinle@hi.uni-stuttgart.de
Anmerkungen
1 Siehe zu Scheifele und zum Homophilen Engagement im deutschen Südwesten auch: Munier 2021a u b, S. 334-352. Zu dem frühen badischen Homophilenaktivisten Otto Hug siehe auch Wolfert, Raimund (2017): „Neu entdeckt: der Bühler Studienrat Otto Hug“. In: URL: https://www.lsbttiq-bw.de/2017/05/04/neu-entdeckt-der-buehler-studienrat-otto-hug/, 16.05.2021.
2 Groß-Berlin gehörte nicht den Besatzungszonen an und wurde von einer dem Kontrollrat unterstellten Kommandantur verwaltet. Vgl. Schäfer 2006, S. 75.
3 Vgl. hierzu auch Klimmer 1958, S. 150. Vgl. hierzu auch Schäfer 2006, S. 75.
4 Archiv des Liberalismus Gummersbach, N1 387, Bestand Thomas Dehler, Bl. 24. Antwortschreiben des Magistrats von Groß-Berlin an den Stuttgarter Homosexuellenaktivisten Emil Scheifele v. 30.09.1947.
5 Vgl. Pretzel 2002, S. 75.
6 Vgl. Schiefelbein 1992.
7 Vgl. HStA Stuttgart, EA 4/001 Nr. 549, Bl. 58, Polizeipräsidium Stuttgart, Jahresbericht 1948, S. 110. Unklar ist, ob es sich um Anzeigen nach § 175 oder § 175 a StGB handelte, oder ob – und dies scheint wahrscheinlich – Anzeigen nach beiden Paragrafen aufgenommen und verfolgt wurden. Aufgeklärt wurden 101 von 104 sogenannten Fällen.
8 Wolfert 2015, S. 17.
9 Archiv des Liberalismus Gummersbach, Bestand Thomas Dehler, N1 387, Bl. 27. Schreiben des Emil Scheifele an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates Dr. jur. Konrad Adenauer v. 15. Mai 1949.
10 Ebd. Zudem geben die Protokolle des Parlamentarischen Rates (Der Parlamentarische Rat: 1948-1949. Akten und Protokolle herausgegeben vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv unter Leitung von Kurt Georg Wernicke u.a., 1975) hierzu keine Auskunft.
11 Archiv des Liberalismus Gummersbach, Bestand Thomas Dehler, N1 387, Bl. 27. Schreiben des Emil Scheifele an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates Dr. jur. Konrad Adenauer v. 15. Mai 1949.
Literatur
Klimmer, Rudolf (1958): Die Homosexualität als biologisch-soziologische Zeitfrage. Hamburg: Kriminalistik, Verlag für kriminalistische Fachliteratur.
Munier, Julia Noah (2021a): „Die Homophilenbewegung im deutschen Südwesten der 1950er und 1960er Jahre als Akteurin der Anerkennung“. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. 22. Jg. 2020, S. 77-112.
Munier, Julia Noah (2021b): Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kohlhammer.
Pretzel, Andreas (2002): „Die gescheiterte Entnazifizierung des Rechts“. In: Ebd. (Hg.): NS-Opfer unter Vorbehalt. Homosexuelle Männer in Berlin nach 1945 (Berliner Schriften zur Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, 3). Münster/Hamburg u.a.: LIT-Verl., S. 71-82.
Schäfer, Christian (2006): „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182a.F. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (Juristische Zeitgeschichte, 26). Berlin: BWV.
Schiefelbein, Dieter (1992): „Wiederbeginn der juristischen Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik Deutschland. Die Homosexuellen-Prozesse in Frankfurt am Main 1950/51“. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 5. Jg. H. 1, S. 59-73.
Wolfert, Raimund (2015): Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik. Kurt Hiller, Hans Giese und das Frankfurter Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Göttingen: Wallstein Verl.
1 Comment