Queer im Leben! Eine Publikation über die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region
Wolfgang Knapp und Andreas Schenk
Die Geschichte und Gegenwart queeren Lebens in der Region Rhein-Neckar und ihrer Zentren Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg ist das Thema dieses im Oktober 2022 vom MARCHIVUM herausgegebenen Buches. Die Publikation mit beigefügter Filmdokumentation berichtet von Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung, aber auch vom Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung, von queeren Emanzipationen und Communities.
Sie nimmt die vielen Jahrhunderte der Stigmatisierung und Verfolgung von Menschen, die heute als lesbisch, schwul, bi, trans*, inter* oder queer bezeichnet werden, in den Blick. Als frühes Beispiel führt es das Decretum des Bischofs Burchard von Worms aus dem frühen 11. Jahrhundert an, das für sogenannte Unzucht und Sodomie Strafen im Bereich des Kirchenrechts – vom Entzug der Sakramente über öffentliche Bloßstellung bis zu Auspeitschung und Gefängnis – vorschrieb.
Doch auch weit später wurden Gesetze dieser Art erlassen. Im Zuge der Gründung des Deutschen Kaiserreichs wurde 1872 der § 175 StGB reichsweit eingeführt, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte und mit Gefängnisstrafen ahndete. Durch die akribische Auswertung von Presseberichten hat Christian Könne für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs in der Rhein-Neckar-Region rund 100 Fälle gefunden, bei denen Männer wegen des § 175 vor Gericht angeklagt wurden. Nicht wenige wurden verurteilt und mussten eine Gefängnisstrafe verbüßen.
In der NS-Zeit erreichte die Verfolgung ihren Höhepunkt. Der § 175 wurde 1935 verschärft, so dass schon eine Umarmung zwischen Männern oder ein „falscher“ Blick als Beweis für Homosexualität gelten und zur Verurteilung führen konnte. Ab 1936 diente die „Reichszentrale zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung“ als zentrales Instrument der Verfolgung. Mit einem Rosa Winkel gebrandmarkt, wurden viele Menschen wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt, die sie oftmals nicht überlebten. In Mannheim, Ludwigshafen und Worms erinnern heute sechs Stolpersteine an aus der Region stammende queere Opfer der NS-Zeit.
In weiteren Kapiteln verfolgt das Buch die queeren Emanzipationsbewegungen und Kämpfe um Anerkennung und Gleichberechtigung. So wird die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene und viel beachtete Kampagne zur Abschaffung des § 175 des Berliner Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld genauso betrachtet wie die Existenz einer „queeren Subkultur“ zum Ende des Kaiserreiches. Um 1900 existierten in Mannheim einzelne Kneipen und Gaststätten, die zu bestimmten Zeiten als Treffpunkte vor allem schwuler Männer dienten. Dort lagen teilweise auch Aufklärungszeitschriften mit queeren Themen aus. Der Polizei waren diese Gaststätten bekannt. Die Wirte und ihre Gäste wurden bespitzelt und ausgefragt, immer mit dem Ziel, gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen nachzuweisen. So sind es ausgerechnet die Akten der Strafverfolgungsbehörden, die über die Orte und Personen queerer Emanzipation im Kaiserreich und dann auch in der Weimarer Republik Auskunft geben.
Diese frühe Emanzipationsbewegung wurde in der NS-Zeit zerschlagen. Aber auch in der jungen Bundesrepublik unterdrückten Justiz und Polizei den Kampf queerer Menschen für ihre Rechte und ein selbstbestimmtes Leben. Erst 1969 kam es zur Reform des § 175. Homosexualität zwischen erwachsenen Männern wurde – gegen vielfachen Widerstand – straffrei. Es war eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche, an denen neben der Frauenbewegung auch Aktivist*innen aus der queeren Community einen wichtigen Anteil hatten.
Entsprechend spannend lesen sich die Kapitel über die schwulen und lesbischen Emanzipationsbewegungen seit Anfang der 1970er Jahre in Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen, aber auch in 14 weiteren Städten der Region. Neben den Freizeitangeboten, Kneipen, Bars, Diskotheken und anderen queeren Orten werden vor allem die Initiativgruppen und ihr Engagement gegen Diskriminierungen und Vorurteile vorgestellt, wobei auch die innerhalb der Community bestehenden Kontroversen über Ziele und Wege der politisch-gesellschaftlichen Arbeit zur Sprache kommen. Die zunehmende Diversifizierung wird thematisiert und erstmals werden die Öffentlichkeiten, Vernetzungen und Emanzipationen von Bisexuellen sowie von Trans* und Inter* in der Rhein-Neckar-Region beschrieben. Dazu kommen Beiträge über die Auswirkungen von HIV und Aids, die Geschichte des Christopher Street Days in der Region und den langen Weg zu gleichgeschlechtlichen Eheschließungen. Mit den Kapiteln über die heutigen Freizeitangebote und Beratungseinrichtungen kommt das Buch in der Gegenwart an.
Auf dem Weg dorthin werden nicht nur die großen historischen Linien betrachtet, sondern auch Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien vorgestellt. Zum Beispiel August Wilhelm Iffland, im 18. Jahrhundert Schauspieler, Intendant und Dramaturg am Mannheimer Nationaltheater, oder Melchior Grohe, ein in Mannheim geborener Schriftsteller, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Verteidigungsschrift der Homosexualität verfasste. Es wird über die Affäre um den Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Johann Baptist von Schweitzer berichtet, dem 1862 „Unzucht“ im Mannheimer Schlosspark vorgeworfen wurde, was einen Skandal hervorrief und von seinen politischen Gegnern genutzt wurde, um ihn zu diskreditieren.
Ein Bürgermeister in Neckargemünd und ein Schuldirektor in Landau, die wegen ihrer Homosexualität ihre Ämter verloren, werden ebenso in Erinnerung gebracht wie die aus Ludwigshafen am Rhein stammende Transfrau Liddy Bacroff, die 1943 im KZ Mauthausen ermordet wurde – oder Hertha Wind, die in den 1950ern ihre Lebensgeschichte und ihre Transidentität bekannt machte.
Weitere Schlaglichter erinnern an den bekannten Mannheimer Künstler Rudi Baerwind, der wegen seiner Homosexualität zweimal im Gefängnis saß, an den in Mannheim geborenen und in Ludwigshafen aufgewachsenen Schauspieler Dietmar Kracht, der durch Filme von Rosa von Praunheim bekannt wurde, an den gebürtigen Ludwigshafener Napoleon Seyfarth, der in einer viel beachteten Autobiografie sein intensives Leben als Homosexueller und seine Aids-Erkrankung öffentlich machte und auch auf seine Kindheit und Jugend in der Region Rhein-Neckar-Pfalz zurückblickte.
Queere Geschichte – ein Teil der Stadt- und Regionalgeschichte
Buchpublikation (mit Filmdoku) von 2022: „Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region“. Band 9 der Schriftenreihe des MARCHIVUM (Mannheims Archiv, Haus der Stadtgeschichte und Erinnerung). Autor*innen sind Dana-Liva Cohen, Wolfgang Knapp und Christian Könne. Die Bearbeitung und Redaktion erfolgten durch Andreas Schenk. Der buchbegleitende Filmbeitrag wurde von Dana-Livia Cohen und Wolfgang Knapp in Zusammenarbeit mit Ali Badakhshan Rad realisiert.
Zahlen & Fakten
Das 344 Seiten umfassende, mit 140 Abbildungen illustrierte Buch spannt in 36 Textbeiträgen den Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Neben vertiefenden chronologischen Beiträgen zur Verfolgungs- und Emanzipationsgeschichte wird in Kurzbeiträgen queeres Basiswissen vermittelt (z. B. Begriffsdefinitionen). Hinzu kommen thematisch fokussierte Einzelbeiträge und biografische Porträts. Ein Überblick über die heutigen Beratungs- und Freizeitangebote rundet die Publikation ab. Die dem Buch beigefügte Film-DVD (45 Min.) ist eine dokumentarische Spurensuche zur queeren Geschichte der Metropolregion Rhein-Neckar. Ausschnitte aus historischen Fernsehsendungen und Reportagen sind mit Berichten und Statements von insgesamt 16 Zeitzeug*innen verflochten.
Bestellung
Buch inkl. Film-DVD sind im Shop des MARCHIVUM, im Buchhandel und beim Verlag Regionalkultur zum Preis von 29,80 Euro erhältlich. https://www.marchivum.de/de/shop/buecher-publikationen-religion-u-soziales/queer-im-leben