Der Urning – Selbstbewusst schwul vor 1900. Das Stuttgarter »Kränzchen« um Karl Heinrich Ulrichs

Der Urning – Selbstbewusst schwul vor 1900

Das Stuttgarter »Kränzchen« um Karl Heinrich Ulrichs

Von Philipp Hofstetter (Zürich) und René Hornung (St. Gallen)

Der_Urning (Umschlag). Quelle: Stadtrchiv St. Gallen, OBG-B-168

Stuttgart sei das »Athen der ›Urninge‹«. Diese überraschende Aussage findet sich in der Anklageschrift, die der Staatsanwalt des Schweizer Kantons St. Gallen 1879 im polemischen Ton gegen Jakob Rudolf Forster verfasst hat. In Stuttgart sei dieser Forster in einen erlauchten Kreis um die Person Karl Heinrich Ulrichs aufgenommen worden. Dort habe er sich quasi durch die Theorie der Urninge manipulieren lassen. In der Schweiz sei er zu den Wortführern des Urningtums geworden.

Jakob Rudolf Forster (1853–1926) wuchs in bescheidenen Verhältnissen in der Ostschweizer Region Toggenburg auf. Nach der Grundschule wechselte er in die blühende Textilhandelsstadt St. Gallen. Sein Vater starb früh und er übernahm dessen Honighandelsgeschäft. Doch bald machte er Konkurs und weil der berufliche Erfolg auch in der Folge ausblieb, entschloss er sich als 24-Jähriger 1877 nach Deutschland auszuwandern.

In Friedrichshafen am Bodensee traf er an seinem ersten Abend einen schwarzgelockten Jüngling an, mit dem er nicht nur die Nacht verbrachte, sondern der ihm auch »eine Broschüre überreichte, welche meine Liebesrichtung behandelte«. Diese Schrift bestätigte Forsters Ansicht, seine Liebe zu Männern sei angeboren. Autor des Büchleins war Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895), königlich hannoveranischer Amtsassessor, Mitglied des Deutschen Juristentags und berühmt gewordener Vorkämpfer für die Rechte der Homosexuellen . Ulrichs – der den Begriff Urning vor dem Hintergrund der griechischen Götterwelt kreiert hatte – wohnte zu dieser Zeit in Stuttgart. Forster wollte sich deshalb auch dort niederlassen: »Hier (in Stuttgart) gefiel es mir so, dass ich beschloss, Wohnung zu nehmen, was in einigen Tagen im ‹Engel›, Gymnasiumstrasse 13, geschah.«

(Anmerkung d. Autoren: Nachforschungen in den Stuttgarter Adressbüchern ergeben, dass sich Forster hier nicht korrekt erinnerte: Der »Engel« befand sich an der Schusterstrasse 6. Das Lokal an der Gymnasiumstrasse 13 hiess »Zum Wahrheitstempel«.)

Forster zögerte nicht und schrieb Ulrichs einen Brief, ob ihm ein Besuch angenehm wäre. Ulrichs lud ihn ein. Forster wurde empfangen und es entwickelte sich eine Freundschaft. Forster durfte am »Kränzchen» teilnehmen zu dem sich jeden Dienstag ein erlauchter Kreis in einer »Restauration« an der Gymnasiumstrasse traf, »um sich über Uranismus zu unterhalten, nur theoretisch, nicht praktisch«, wie Forster Jahre später in seiner Autobiografie schreibt.

Die Mitglieder dieses »Kränzchens« waren Ulrichs, Theodor Mandello, Eduard Fridolin Schöllhorn, genannt Marquise Emilie de Pompadour und Forster. Hie und da nahm auch Polizeidirektor Hermann Sigel teil. Bemerkenswert ist, dass Forster scheinbar leicht Anschluss an einen Kreis gebildeter Männer fand und die Beziehung zu Ulrichs über die Standesgrenzen hinweg auf offensichtlich freundschaftlicher Basis beruhte.

Nach wenigen Monaten zog er nach Ludwigsburg weiter, einer Garnisonsstadt, in der er »Himmel und Soldaten« begegnete. In Ludwigsburg besuchte er auch das Mausoleum, das der württembergische König Friedrich I. dort seinem verehrten Grafen Johann Karl von Zeppelin (1766–1801) in Form eines Tempels mit dorischen Säulen errichtet hat. Forster war von der romantischen, verwitterten Inschrift entzückt. Und bevor er schliesslich auch aus Ludwigsburg in Richtung Konstanz und zurück in die Schweiz reiste, schickte er König Karl von Württemberg (auch ihm wurde schon damals Homosexualität nachgesagt) ein Empfehlungsschreiben, den hochverdienten Ulrichs doch finanziell zu unterstützen. Auf diesen Unterstützungsantrag und der impliziten Dankbarkeitsgeste gegenüber Ulrichs entgegnete die Stuttgarter Stadtverwaltung (anstelle des Königs), es sei zweifelhalft, ob das Schreiben wirklich von diesem «auf geringer Bildungsstufe stehenden Handelsmanns» verfasst worden sei.

Vielleicht wäre diese Episode eine Fussnote der Geschichte geblieben, hätte Forster in Stuttgart nicht ein kleines blaues Heftchen gekauft, in das er seine erotischen und auch zahlreichen gleichgeschlechtlichen Begegnungen akribisch notierte. Dieses weltweit einzigartige Dokument kam zwei Jahre später den St. Galler Behörden bei einer Hausdurchsuchung in die Hände. In der Folge wurde ihm und weiteren Personen der Prozess gemacht. Ein Begnadigungsgesuch von Ulrichs – der mittlerweile in Italien ein karges Dasein fristete – kam zu spät in St. Gallen an und wurde deshalb nicht mehr behandelt.

Forster hatte sich zeitlebens für die Sache der Urninge stark gemacht, wurde mehrfach eingesperrt, weggesperrt, ausgewiesen und psychiatrisch begutachtet. Schliesslich liess er sich als Heiratsvermittler in Zürich nieder und wurde später Treuhänder. 1898 gab er seine Autobiografie im Selbstverlag heraus. Er ist – soweit bekannt – der erste Mann in der Schweiz, der im modernen Sinn eine mannmännliche homosexuelle Identität öffentlich lebte. Im Buch «Der Urning – Selbstbewusst schwul vor 1900» lässt sich die Geschichte nun ausführlich nachvollziehen.

Die Autoren:

Philipp Hofstetter wuchs im Toggenburg auf und promovierte in Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als freischaffender Historiker, Autor und Archivar in Zürich.

René Hornung studierte Volkswirtschaft und arbeitet als freier Journalist in St. Gallen. Er war für zahlreiche Magazine als Redaktor und Produzent tätig.

Zur Publikation:

Philipp Hofstetter, René Hornung: Der Urning– Selbstbewusst schwul vor 1900
Verlag Hier + Jetzt, Zürich
384 Seiten, 133 s/w und farbige Abb. gebunden

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