Leonard J. Anfang 1925 wurde im württembergischen Heidenheim fünf Männern der Prozess wegen widernatürlicher Unzucht gemacht. Der Friseurlehrling Oskar R., wohnhaft bei seinem Meister, war von diesem inflagranti mit zwei Männern im Bett erwischt und der Polizei gemeldet worden. In den folgenden Verhören nannten die drei Angeklagten noch weitere Namen, so dass im Prozess insgesamt fünf Männer angeklagt wurden:
- Oskar R. Friseurlehrling aus Heidenheim, 17 Jahre alt
- Wilhelm S., Ausläufer bei einer Buchhandlug aus Heidenheim, 18 Jahre alt
- Leonard J., Kaufmann aus Heidenheim, 29. Jahre alt
- August J., Techniker aus Gmünd
- Engelbert M., Kaufmann aus Aalen, verheiratet, 36 Jahre alt
Alle fünf waren auf verschiedene Weise miteinander vernetzt und bekannt und hatten laut eigener Zeugenaussagen (mit Ausnahme August J.) sexuelle Begegnungen gehabt. Neben den Verhören der fünf Angeklagten vernahm die Polizei zahlreiche Zeugen: andere Männer, die in Kontakt zu den Angeklagten standen, den Stuttgarter WHK-Obmann Dr. Döderlein, und den Leiter des Erziehungsheims, in das Oskar R. gesteckt wurde, nachdem sein Meister ihn nach seiner Verhaftung hinauswarf. Bei diesen Zeugenvernehmungen ging es um mögliche weitere gleichgeschlechtliche Sexualkontakte der Angeklagten, aber auch um deren Persönlichkeit und Charakter, die sich im positiven oder negativen Sinne stark auf die Höhe des Strafmaßes auswirken konnten.
In den polizeilichen Vernehmungen und vor Gericht wurde das Sexualleben der Männer bis ins Detail erfragt. Aufgrund einer möglichen „Gefährdung der Sittlichkeit“ fand der Prozess denn auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Zentral war die Frage, ob nur gegenseitige Onanie stattgefunden habe, die in den 1920er Jahren legal war oder, ob die Angeklagten ihre Penisse zwischen die Schenkel eines anderen gedrückt und „Bewegungen wie beim Beischlaf“ gemacht hätten, was als sogenannte „beischlafähnliche“ Handlung ein Straftatbestand war. Relevant vor Gericht war auch, ob die Angeklagten „einen Reiz“ bei den sexuellen Handlungen verspürt hätten und ob es zum Samenerguss gekommen sei. Weiterhin fragten Polizei und Gericht danach, ob Geld geflossen sei.
Vor allem Leonard J. hatte sich beim Homosexuellenverband Gemeinschaft der Eigenen über seine Rechte informiert und zeigte sich vor Gericht gut vorbereitet: Er betonte immer wieder, außer gegenseitiger Onanie sei nichts vorgefallen. Der Mangel an Beweisen für beischlafähnliche Handlungen führte schließlich zu einem Freispruch für alle Angeklagten.
Oskar R. wurde während der NS-Zeit wegen Vergehen nach § 175 erneut verhaftet und ins KZ Dachau und später ins KZ Stutthof bei Danzig deportiert, wo er am 18. Mai 1943 ermordet wurde.
Die ausführliche Gerichtsakte, die neben Vernehmungs- und Gerichtsprotokollen auch Zeitschriften und Briefe enthält, die bei den Angeklagten als Beweismittel beschlagnahmt wurden, gibt nicht nur Aufschluss über das Verfahren selbst gibt, sondern eröffnet uns auch Einblicke, wie in der südwestdeutschen Provinz der 1920er Jahre homosexuelle Kontakte geknüpft wurden. Dass dies kein einfaches Unterfangen war, zeigt sich immer wieder in den Aussagen Leonard J.s, er sei einsam gewesen. Auch verschiedene andere Männer, mit denen er korrespondierte, schreiben darüber, dass sie einsam und isoliert seien und keine anderen Homosexuellen in ihrer Stadt oder ihrem Dorf kennen würden.
Das Quellenmaterial zeigt aber auch eindrücklich, dass es auch weitab der großstädtischen Subkultur Möglichkeiten homosexueller Kontakte gab.
Die verschiedenen Strategien der Kontaktaufnahme, die aus den Verfahrensakten hervorgehen, sind folgende:
Ansprechen auf der Straße: Engelbert M. und Oskar R. lernten sich auf der Ulmer Frühjahrsmesse kennen, indem Engelbert M. den deutlich jüngeren Oskar R. ansprach und im Folgenden um weiteren Kontakt bemühte. Auch den Zeugen Vitus K. lerne Engelbert M. im öffentlichen Raum kennen.
Weitergabe von Adressen und Kontakten: Vor allem der verheiratete Kaufmann Engelbert M. knüpfte Kontakte, indem er Adressen von anderen Homosexuellen sammelte und diese direkt kontaktierte. Dies konnte auf Grundlage von Gerüchten, jemand sei homosexuell, geschehen. Häufiger aber wurden innerhalb des angeklagten Netzwerks Adressen von anderen homosexuellen Männern weitergegeben. So entstand etwa der Kontakt zwischen Leonard J. und Oskar R., die beide in Heidenheim lebten, über den Aalener Engelbert M., der beide kannte und Adressdaten weitergab.
Kennenlernen über Freundeskreise: Innerhalb von Freundeskreisen konnten homosexuelle Netzwerke entstehen oder erweitert werden. So waren etwa die beiden jüngsten Angeklagten, Wilhelm S. und Oskar R., miteinander gut befreundet, und versuchten auch einen dritten Freund dazu zu holen, bei dem sie homosexuelle Neigungen vermuteten.
Kontaktanzeigen: Teil des beschlagnahmten Beweismaterials waren Antworten, die Leonard J. auf eine geschaltete Kontaktanzeige hin erhielt. Die Markierungen verschiedener Kontaktanzeigen in ebenfalls beschlagnahmten Zeitschriften weisen darauf hin, dass die Polizei zu ergründen versuchte, welche der Anzeigen von Leonard J. stammte.
Homosexuellenverbände: Die bei Leonard J. gefundenen Briefe des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees und der Gemeinschaft der Eigenen weisen darauf hin, das J. im Herbst 1924 beide Verbände anschrieb, sich Informationsmaterial schicken ließ und kurz darauf Mitglied wurde. Keiner der beiden Organisationen hatte Ortsgruppen in Südwestdeutschland, doch die Gemeinschaft der Eigenen gab Mitgliedern die Adressen anderer Mitglieder aus der Region weiter. Da Junginger mit verschiedenen Personen korrespondierte, ist anzunehmen, dass er diese Möglichkeit nutzte. Auch setzte er sich mit dem Stuttgarter WHK-Obmann, dem Arzt Dr. Döderlein, in Verbindung und plante ein persönliches Treffen. Dass die Homosexuellenverbände eine wichtige Anlaufstelle für Leonard J. war, zeigt auch die Bitte um Rechtsbeistand an die Gemeinschaft der Eigenen nach seiner Verhaftung.
Quelle: Sta LB, F 263 I St 50.