Repression gegen homosexuelle Männer

Nationalsozialistische Verfolgung homosexueller Männer

Dargestellt ist die schwarz-weis Fotografie der ehemaligen Haftanstalt in Karlsruhe-Durlach. Drei Reihen viereckiger Fenster, die mit Eisengittern versperrt sind, bilden eine triste Fassade die nur durch vertikale Regenrinnenrohe unterbrochen sind. Die Gefängnisfront scheint symmetrisch aufgebaut zu sein, in der Mitte befindet sich das Eingangsportal zu welchen ein zweitseitiger Treppenaufgang hinaufführt.

Haftanstalt in Karlsruhe-Durlach. Dieses Gefängnis wurde als Jugendarrestanstalt und später als Untersuchungsgefängnis des Bundesgerichtshofs genutzt. Das Gebäude wurde 1990 abgerissen. Das Foto stammt aus einem Bildband, der baden-württembergische Justizvollzugsanstalten zeigt. Nach Angaben des besitzenden Archivs entstand der Band um 1960, weitere Informationen, wie etwa zu der Frage, wer dieses Album zusammenstellte, sind nicht bekannt. StA Stuttgart J 301a 263, S. 3.

Die Verfolgung homosexueller Männer durch die Nationalsozialist_innen kostete zahlreiche Männern die Freiheit oder sogar das Leben. Das nationalsozialistische Regime zerschlug die subkulturellen Strukturen, und die Justiz ging strafrechtlich gegen gleichgeschlechtliche Sexualität unter Männern vor. Die Polizei überwachte und verfolgte homosexuelle Männer, und nicht wenige wurden in Konzentrationslagern umgebracht.

Der nationalsozialistische Staat verschärfte 1935 den Paragrafen 175 RStGB erheblich und ging deutlich repressiver gegen homosexuelle Männer vor, als es während der Weimarer Republik oder der Kaiserzeit üblich gewesen war. Er verfolgte dabei allerdings keine zielgerichtete Vernichtungspolitik gegen homosexuelle Männer: Viele wurden zwar in Konzentrationslagern ermordet, die meisten Verurteilten jedoch verbüßten eine Freiheitsstrafe im Strafvollzug. Möglich war ebenso eine Verwarnung oder gar ein Freispruch vor Gericht. Ziel der nationalsozialistischen Politik gegenüber männlicher Homosexualität war nicht die physische Vernichtung, sondern eine „Umerziehung“ zur Heterosexualität oder zumindest zur sexuellen Abstinenz homosexueller Männer.

Zur Geschichte des Verbots männlicher Homosexualität

Die Geschichte mann-männlicher Sexualität ist eingebettet in eine lange Geschichte von Verboten, die bis ins Mittelalter zurückgeht. Die Verfolgung gleichgeschlechtlicher sexueller Praktiken war bis ins späte 18. Jahrhundert hinein vor allem religiös begründet. Das Verbot richtete sich nicht gegen gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken allein, sondern gegen alle Arten von Sexualität, die nicht der Fortpflanzung dienten. Analsex etwa war strafbar, auch zwischen Mann und Frau. Schwer geahndet wurden auch sexuelle Kontakte mit Tieren. In der Moderne zeigt sich genau dieser Zusammenhang von mann-männlicher Sexualität und Geschlechtsverkehr mit Tieren noch darin, dass beides seit 1871 unter die Paragrafen 175, 175a und 175b des Strafgesetzbuches fielen.

Im Zuge der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen wurde die Verfolgung mann-männlicher Sexualität in manchen europäischen Staaten abgeschafft, so etwa im revolutionären Frankreich. Auch in Baden wurde während der französischen Besatzung unter Napoleon gleichgeschlechtliche Sexualität unter Männern legalisiert. Andere Staaten wie etwa Preußen behielten das Verbot bei, sahen aber von der vormals üblichen Todesstrafe ab.

Paragrafen 175 und 175a des Strafgesetzbuches

Mit der Gründung des Wilhelminischen Kaiserreichs wurde 1872 ein einheitliches Gesetzbuch für den neuen deutschen Nationalstaat eingeführt. Übernommen aus dem preußischen Recht, tauchte dort erstmals das Verbot männlicher Homosexualität als Paragraf 175 StGB auf. Dieser Paragraf sollte in Deutschland zu einem Symbol der Verfolgung homosexueller Männer werden.

Das Gesetz besagte: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Als „widernatürliche Unzucht“ galten dabei nach einer Reichsgerichtentscheidung „beischlafähnliche“ Handlungen, also Penetration oder Oralsex. Andere gleichgeschlechtliche Handlungen, etwa gegenseitige Masturbation, waren nicht verboten.

Das Diagramm zeigt an, wie sich die Verurteilungszahlen nach Paragrafen 175 und 175a des Strafgesetzbuches vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik entwickelten. Die Zahlen stammen aus amtlichen Kriminalstatistiken. Die Zahl der rechtskräftig Abgeurteilten umfasst alle Fälle, die vor Gericht verhandelt wurden, also auch solche, in denen der Angeklagte freigesprochen oder das Verfahren eingestellt wurde. Die rote Linie zeigt dagegen die Zahl der tatsächlich Verurteilten an. Es gab also sowohl im Nationalsozialismus als auch in der Bundesrepublik immer eine gewisse Zahl an Einstellungen und Freisprüchen. Die Kriminalstatistiken wurden nicht immer einheitlich geführt, daher ist für manche Jahre nur die Zahl der Verurteilten überliefert. Zudem sind bis zum Jahr 1936 Fälle von Sodomie mit in die Statistik eingegangen, in der Regel waren dies zwischen 100 und 400 pro Jahr. Für die Jahre 1945-1949 existieren keine Statistiken. Trotz der teilweise ungenauen Zahlen zeigt die Statistik deutlich, dass die Verurteilungszahlen in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft noch niedrig blieben, ab 1935 massiv anstiegen, ihren Höhepunkt in den Jahren 1937-1939 hatten und dann wieder absanken. In den 1950er Jahren stieg die Zahl der Gerichtsverfahren wieder an und blieb bei 2000 bis 3500 Verurteilungen pro Jahr konstant höher, als sie es als es vor der NS-Zeit war. Quellen: Baumann, Jürgen: Paragraph 175. Über die Möglichkeit, die einfache, nichtjugendgefährdende und nichtöffentliche Homosexualität unter Erwachsenen straffrei zu lassen. Zugleich ein Beitrag zur Säkularisierung des Strafrechts, Darmstadt 1968, S. 58-65. Stümke, Hans Georg; Finkler, Rudi, Rosa Winkel, Rosa Listen, Reinbek 1981, S. 262-263.

Neues Bild (1)

Neues Bild (2)Die beiden Grafiken zeigen die Verurteilungen von Sittlichkeitsverbrechen in Württemberg und Baden in ihrer Entwicklung von 1882 bis ins Jahr 1936. In Württemberg stiegen die Verurteilungen nach Paragraf 175 RStGB (blaue Linie) ab 1934/35 deutlich an und spiegeln damit die reichsweite Entwicklung wider. In Baden hingegen blieben die Zahlen in den 1930er Jahren relativ konstant. Die rote Linie zeigt, dass die Verurteilungen nach Paragraf 175 RStGB immer im Kontext einer allgemeinen Sittlichkeits-Rechtsprechung standen, die auch Notzucht (Vergewaltigung), Kuppelei oder Zuhälterei bestrafte. Seit den 1880er Jahren stiegen die Urteilszahlen von Sittlichkeitsverbrechen beständig an und wurden durch das nationalsozialistische Regime noch weiter hochgetrieben. Für die Jahre 1916-1924 liegen keine Zahlen für die einzelnen Länder vor, daher konnten sie nicht in die Statistik einbezogen werden. Quelle: Statistisches Reichsamt: Kriminalstatistik für das Jahr 1882 (und folgende), Berlin 1884 (und folgende).

Während der Weimarer Republik blieb das Gesetz weiter bestehen und wurde schließlich von den Nationalsozialisten 1935 drastisch verschärft: Strafbar waren nun nicht mehr allein „beischlafähnliche“ Handlungen, sondern sämtliche erotischen und sexuellen Annäherungen zwischen Männern. Mit dem neugeschaffenen Paragraf 175a RStGB konnten zudem sogenannte „qualifizierte“ Fälle von Homosexualität mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft werden. Dies galt für Prostitution, die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen sowie Sexualität mit Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren.

Denunziationen und Festnahmen

Die polizeiliche Verfolgung homosexueller Männer wurde von der Sicherheitspolizei, die sich aus Geheimer Staatspolizei (Gestapo) und Kriminalpolizei zusammensetzte, vorgenommen. In den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft lag die Verfolgung männlicher Homosexualität vor allem bei der Gestapo, ab Mitte der 1930er Jahre war die Kriminalpolizei in größerem Maße zuständig. Die Polizei stützte ihre Arbeit in vielen Fällen auf Denunziationen durch Kolleg_innen, Nachbar_innen oder Bekannte.

„Am 4.12.1938 erfuhr ich gesprächsweise in der Wirtschaft zum Griesheimerhof in Griesheim, dass S. am vorhergehenden Abend den D. in seine Wohnung eingeladen habe. D. habe dieser Einladung Folge geleistet und habe bei ihm im selben Bette geschlafen hat [sic!]. Über solche Sachen hörte ich schon öfters über S., und aus diesem Grund vermute ich mit Bestimmtheit, dass er auch mit D. Unzucht getrieben hat.“ Denunziation der beiden Hilfsarbeiter Hilarius S. und Julius D. durch den Tiefbauarbeiter Paul Schneider bei der Offenburger Gendarmerie 1938. Mit der Denunziation wurde eine polizeiliche und juristische Verfolgung in Gang gesetzt, die beide ins Gefängnis und Hilarius S. am Ende ins Konzentrationslager bringen sollte, wo die Nazis ihn ermordeten. Quelle: StA Freiburg A 43/1 Nr. 894.

Auf Denunziationen folgten nicht selten Hausdurchsuchungen und weitere Ermittlungen im Familien- und Arbeitsumfeld. In Verhören zwang die Polizei zudem die Verhafteten zur Preisgabe von weiteren Namen und Kontakten, so dass manchmal eine erste Verhaftung eine Welle weiterer Festnahmen nach sich zog. Dies geschah etwa in einem Fall aus der Weimarer Zeit, wo insgesamt fünf Männer aus Heidenheim, Gmünd und Aalen vor Gericht kamen, die alle untereinander in Kontakt standen (StA Ludwigsburg F 263 I St 50).

In anderen Fällen wurden homosexuelle Männer regelrecht in Fallen gelockt, um überführt zu werden. Der bereits wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht vorbestrafte Erich Sch. aus dem badischen Laufen etwa lernte im Sommer 1937 in einer Wirtschaft einen Fremden kennen. Dieser signalisierte deutlich sein Interesse, nur um bei einem gemeinsamen Spaziergang nach ersten körperlichen Annäherungen Erich Sch. mit einer Anzeige zu konfrontieren (StA Freiburg A 25/1 593). Solche Lockvogel-Aktionen wurden teilweise auch von der Polizei initiiert.

Homosexuelle Männer vor Gericht

Brief Schwarz-001

Brief des Kochs Ludwig S. aus der Untersuchungshaft an die zuständige Staatsanwaltschaft. In seinem Brief benennt S. verschiedene Entlastungzeug_innen, die für ihn bürgen könnten. Die roten und blauen Markierungen und die Notizen am Rand des Briefs verweisen darauf, dass von Seiten des Gerichts die Eingaben wahrgenommen und bearbeitet wurden. Tatsächlich wurden einige der genannten Zeug_innen bei der Verhandlung vorgeladen. S. wurde zu einem Jahr und fünf Monaten Haft verurteilt. Quelle: StA Ludwigsburg E 323 II Nr. 150.

In der Regel übergab die Polizei homosexuelle Männer der Justiz. Zwischen 1933 und 1945 wurden reichsweit ca. 53.000 Männer nach  Paragrafen 175 oder 175a RStGB verurteilt. Dazu kamen noch weitere ca. 7.000 Soldaten, die ab 1939 wegen homosexueller Delikte von Wehrmachtsgerichten verurteilt wurden.

Das Strafmaß war in hohem Maße davon abhängig, aus welcher sozialen Klasse und welchem Milieu die angeklagten Männer stammten und ob sie eine geordnete Lebensführung, gar eine Ehe vorzuweisen hatten. Es waren also weniger die Taten als vielmehr sozialer Hintergrund und Persönlichkeit der Angeklagten, die über das Ausmaß der Strafe entschieden. Ein positiver Eindruck vor Gericht, eine „geregelte“ Lebensführung oder ein Einsatz im Krieg konnten dazu beitragen, das Strafmaß zu mildern.

Auch in der Frage, wer überhaupt vor Gericht kam, spielte die Klassenzugehörigkeit eine große Rolle: Für Männer aus der Arbeiterklasse, die oftmals kein eigenes Zimmer hatten und somit ihre sexuellen Kontakte im öffentlichen Raum ausleben mussten, war die Gefahr, denunziert zu werden, ungleich höher.

Keine Unterscheidungen zwischen einvernehmlichem Sex und Missbrauch

Das Gesetz unterschied nicht zwischen einvernehmlicher Sexualität und Vergewaltigung oder Missbrauch. Das führte dazu, dass allzu oft jugendliche Opfer gleich mit bestraft wurden, hatten sie sich doch „zur Unzucht missbrauchen“ lassen, wie es im strafrechtlichen Jargon hieß.

Minderjährig verurteilt-001

Auszug aus der Urteilsschrift eines Verfahrens nach Paragraf 175a StGB. Der minderjährige Junge, Opfer sexuellen Missbrauchs, wurde zu vier Monaten Jugendarrest verurteilt. Diese Strafe ist immerhin weitaus geringer als die des erwachsenen Täters, der zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus verurteilt wurde. Quelle: StA Ludwigsburg E 323 II Nr. 163.

Allerdings war das Strafmaß in solchen Fällen meist gering. Die Frage der Einvernehmlichkeit konnte auch im Strafmaß der Angeklagten berücksichtigt werden. Dies war von der Einschätzung der Richter abhängig.

Die fehlende Unterscheidung zwischen einvernehmlicher und nicht einvernehmlicher Sexualität zeigt, dass in der Logik des Gesetzes die Gleichgeschlechtlichkeit schwerer wog als die Frage, ob sexueller Missbrauch vorlag. Besonders bestraft werden sollte nicht der Missbrauch, sondern allein der Umstand, dass er gleichgeschlechtlich war.

Polizeiterror und KZ-Haft

Jenseits der Gerichtsverfahren konnten Gestapo und Kriminalpolizei mit den Instrumenten der „Schutzhaft“ und der „Vorbeugehaft“ Menschen außerhalb des Rechtssystems verhaften und ohne richterliches Urteil in Konzentrationslager bringen.

Hilarius S. Einweisung nach Natzweiler-001

Bescheid über die Deportation des Arbeiters Hilarius S. von der Heil- und Pflegeanstalt Hördt ins Konzentrationslager Natzweiler-Struthof. Wenige Monate später wurde S. dort ermordet. Quelle: StA Freiburg A 43/1 Nr. 894.

Vor allem als rückfällig eingestuften Homosexuellen drohte eine Einweisung in ein Konzentrationslager. Die erfolgte oftmals, nachdem die Männer ihre Gefängnisstrafe verbüßt hatten. Der Arbeiter Hilarius S. zum Beispiel wurde auf Grundlage eines psychiatrischen Gutachtens nach Ende seiner Haftstrafe zunächst in die Heilanstalt Emmendingen gebracht, vier Jahre später wurde er ins KZ Natzweiler-Struthof deportiert und dort ermordet.

Die Forschung schätzt die Zahl der in Konzentrationslagern inhaftierten homosexuellen Männer auf ca. 6.000. Homosexuelle Männer aus Baden, Württemberg oder dem besetzen Elsass wurden in der Regel nach Dachau, ins elsässische Konzentrationslager Natzweiler-Struthof oder auch in die norddeutschen Emslandlager deportiert.

Overview of Struthof Concentration Camp in Natzweiler, France, only Nazi concentration camp on present day French soil. Located in the Alsace Region near the village of Natzwiller and the town of Schirmeck, about 50 km (31 mi) south west from the city of Strasbourg. Natzweiler-Struthof was the only concentration camp established by the Nazis on present-day French territory,

Die heutige Gedenkstätte Natzweiler-Struthof in den Vogesen – ein landschaftlich idyllisch gelegener Ort des Terrors. Neben dem Hauptlager (1941-44) bestanden zahlreiche Nebenlager entlang des Rheins. Hier wurden die Gefangenen als Zwangsarbeiter eingesetzt, vielfach für die deutsche Rüstungsindustrie und zum Ausbau von kriegswichtiger Infrastruktur. Quelle: N0TABENE, Gemeinfrei

Homosexuelle Gefangene, die mit einem rosa Winkel oder auch einem „A“ (für „Arschficker“) gekennzeichnet wurden, hatten in der Regel keine Netzwerke untereinander und erfuhren nur wenig Solidarität durch andere Gefangene. Feinselige Einstellungen gegenüber männlicher Homosexualität herrschten auch unter KZ-Häftlingen. Nur wenige Gefangene mit rosa Winkel überlebten die KZ-Haft. In der Lagerhierarchie standen sie auf unteren Stufen, wie eine Untersuchung aus dem KZ Sachenhausen zeigt. Erst als nach 1942/43 mehr russische Kriegsgefangene in das Lager kamen, wurden Häftlinge mit rosa Winkel z.B. in der Schreibstube angestellt, wo sie überhaupt erst die Möglichkeiten hatten, solidarische Akte auszuführen.

Zusätzlich zu Haft und Mord sind Fälle belegt, in denen Männer im KZ oder Strafvollzug kastriert wurden. Hier zeigt sich, dass auch die Medizin durch ihre Pathologisierung der Homosexualität und die Ausführung solcher Operationen tief in die Verfolgung homosexueller Männer verstrickt war.

Verfolgung nach 1945

Auch in der Bundesrepublik wurden homosexuelle Männer weiter strafrechtlich verfolgt. Die Bundesrepublik übernahm zahlreiche Gesetze aus der NS-Zeit, so auch die Paragrafen 175 und 175a des Strafgesetzbuches. Die Zahl der Verfahren stieg im Vergleich zu den späteren Jahren des Nationalsozialismus sogar an: Die Forschung rechnet mit bis zu 100.000 Verfahren in der Bundesrepublik bis zum Jahr 1965. In Baden-Württemberg lagen die Verurteilungszahlen besonders hoch. Die Vorstellung, die Jugend werde von gleichgeschlechtlich liebenden Männern zur Homosexualität verführt, wirkte sich allzu oft strafverschärfend aus. Ein solcher „Schutz“ der Jugend  führte außerdem dazu, dass in den 1950er Jahren zahlreiche Zeitschriften für Homosexuelle indiziert wurden.

Nach dem Krieg stellten die Staatsanwaltschaften in verschiedenen Fällen Nachforschungen über Urteile aus der  NS-Zeit an – nicht um zu prüfen, ob diese Urteile rechtswidrig waren, sondern um sicherzugehen, dass die Männer trotz der Kriegs- und Nachkriegswirren ihre Haftstrafe verbüßten. Im Fall des 1940 verurteilten Arbeiters Anton W. zum Beispiel setzte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft beträchtliche Energie ein, seinen Verbleib zu überprüfen, und schrieb ihn zusätzlich zur Fahndung aus. W. wurde schließlich vernommen und machte Aussagen über seine Odyssee durch verschiedene Strafanstalten und Konzentrationslager, in denen er bis zu seiner Befreiung durch die Alliierten am 9. Mai 1945 eingesperrt war. Daraufhin wurde die Verbüßung seiner Strafe anerkannt und der Haftbefehl aufgehoben. Die Täter hingegen wurden für ihre Verbrechen gegen homosexuelle Männer in der Regel nicht zur Verantwortung gezogen.

Homosexuelle Männer und ihre Treffpunkte standen auch in der Bundesrepublik unter polizeilicher Beobachtung. Auf sogenannten „Rosa Listen“ wurden als homosexuell bekannte Männer erfasst. Die Intensität der Verfolgung homosexueller Männer hing zu einem beträchtlichen Teil mit dem persönlichen Engagement der zuständigen Beamten zusammen. Die Stuttgarter Polizei berichtete etwa im Jahr 1956 in einem internen Schreiben über die „Bekämpfung des Strichjungen-Unwesens“ (Stadtarchiv Stuttgart 151/100), dass mit Einstellung zweier tüchtiger junger Beamter die Zahl der Anzeigen im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt werden konnte.

Weg mit 175 Tübingen-001

Plakat der Initiativgruppe Homosexualität Tübingen zur Abschaffung von Paragraph 175. Quelle: Schwules Museum* Berlin, Sammlung Deutsche Städte/Tübingen.

Erst 1969 wurde Sexualität zwischen erwachsenen Männern (also ab 21 Jahren) im Zuge einer Strafrechtsreform und in einem sich verändernden gesellschaftlichen Klima unter der Großen Koalition legalisiert. 1973 wurde Sexualität unter Männern ab 18 Jahren straffrei.

Die DDR führte nach dem Krieg die Rechtslage aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik wieder ein. Der Paragraf 175a des Strafgesetzbuches blieb in der Version von 1935 erhalten. Allerdings wurden Homosexuelle in der DDR nur in sehr geringem Maße verfolgt. 1968 wurde das Verbot gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Erwachsenen ganz aufgehoben: Der neugeschaffene Paragraf 151 des Strafgesetzbuches verbot gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Jugendlichen und betraf erstmals auch lesbische Sexualität. 1988 wurde der Paragraph schließlich ersatzlos gestrichen.

Erst im Zuge der Rechtsangleichung zwischen Bundesrepublik und DDR entfiel schließlich 1994 die Fassung des § 175 StGB von 1973 mit ihren Altersbeschränkungen, die schärfer als im heterosexuellen Bereich waren.

Doch selbst nach der weitgehenden Entkriminalisierung wurde die Überwachung weitergeführt. Aus Hamburg ist bekannt, dass noch in den 1980er Jahren die Polizei öffentliche Toiletten überwachen ließ – hinter den Spiegeln befanden sich kleine Kabinen, in denen Polizisten sitzen und die Räume überwachen konnten. 2005 wurde publik, dass die Polizei in Nordrhein-Westfalen eine aus Bayern stammende Software einsetzte, die unter anderem Treffpunkte homosexueller Männer registrierte.

Feindselige Gesellschaft

Staatliche Repression und Überwachung waren eingebettet in ein gegenüber männlicher Homosexualität sehr feindseliges gesellschaftliches Klima: Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung reichten bis in soziale Nahbeziehungen, bis in Freundschaften und Familien. Der KZ-Überlebende Pierre Seel schildert in seinen Erinnerungen, wie er jahrzehntelang über seine Homosexualität schwieg und eine heterosexuelle Ehe einging. Erst in den 1980er Jahren, als alter Mann, sprach er offen über seine Verfolgung und seine Homosexualität.

„Es war der 6. November 1941. Mit einem Schlag wurde ein doppeltes Geheimnis versiegelt: Das erste galt dem Nazi-Terror, das zweite der Schande meiner Homosexualität. Von Zeit zu Zeit glitt ein Blick zu mir, voller Fragen über mein ausgemergeltes Aussehen. Was war in den sechs Monaten aus mir geworden? Ich war also homosexuell? Was hatten die Nazis mir angetan? Warum hatten sie mich freigelassen? Niemand stellte diese ganz natürlichen Fragen. Wenn aber jemand sie gestellt hätte, hätte ich antworten müssen, daß ich gezwungen sei, mein doppeltes Geheimnis zu bewahren. Ich habe vierzig Jahre gebraucht, um diese stummen Fragen zu beantworten.“

Auszug aus Pierre Seel: Ich Pierre Seel, deportiert und vergessen, Köln 1996, S. 59. In seiner Autobiographie schildert Seel, wie er körperlich und seelisch an den Folgen seiner KZ-Haft und an dem jahrzehntelangen Schweigen litt, wie er Alkoholiker wurde, seine Ehe scheiterte. Erst 1981 begann er seine Geschichte öffentlich zu erzählen und um seine Anerkennung als Deportierter und Opfer der Nazis zu kämpfen. Seine Autobiographie erschien in diesem Kontext im Jahr 1994 und ist auch als politische Schrift im Kampf um sexuelle Emanzipation und die Anerkennung der NS-Verfolgung homosexueller Männer zu verstehen.

Homosexuelle Männer mussten zusätzlich mit der Angst leben, im Falle eines Bekanntwerdens ihrer Lebensweise oder gar einer Verurteilung ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Dies bedeutete gerade für Beamt_innen eine existenzielle Gefahr. Das badische Kultusministerium gab 1951 ein Gutachten bei der psychiatrischen Klinik Freiburg in Auftrag, das Antwort auf die Frage geben sollte, inwieweit homosexuelle Lehrer eine Gefährdung für die Jugend darstellten (StA Freiburg C 25/4 Nr. 96). Hans Ruffin, Direktor der Klinik, sprach sich darin für eine Entlassung von Lehrern aus, die nach Paragraf 175 StGB vorbestraft waren. Erfahrungsgemäß, so seine Begründung, würden sich homosexuelle Männer „früher oder später eben doch gerade Jugendlichen zuwenden“, ihr Unterricht werde von ihrem sittlich anstößigen Verhalten beeinflusst, und sie seien zudem als psychopathische Persönlichkeiten einzustufen.

In einem derart repressiven Klima wundert es nicht, dass das Leben vieler homosexueller Männer in Baden-Württemberg auch über die NS-Zeit hinaus in den ersten Dekaden der Bundesrepublik von Geheimhaltung und Doppelleben, Isolation und Einsamkeit bestimmt war. Zugleich erstarkte gerade im deutschen Südwesten die männliche Homosexuellenbewegung schon in der direkten Nachkriegszeit, und es entstanden etwa mit der Homophilengruppe kameradschaft die runde neue Möglichkeiten der Vernetzung.

nr, kp

Weiterlesen

Bogen, Ralf (2015): „Zum Schrecken der Homosexuellen Stuttgarts…“. Ausgrenzung und Verfolgung homosexueller Männer in Württemberg. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 17.

Giles, Geoffrey G. (2005): Legislating Homophobia in the Third Reich. The Radicalization of Prosecution Against Homosexuality by the Legal Profession. In: German History 23 (3),
S. 339-354.

Hoffschildt, Rainer (2002): 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 4, S. 140-149.

Micheler, Stefan (Hg.) (2002): Denunziert, verfolgt, ermordet. Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit. Fachverband Homosexualität und Geschichte. 1. Aufl. Hamburg: MännerschwarmSkript-Verl. (Invertito, 4.2002).

Jellonnek, Burkhard; Lautmann, Rüdiger (Hg.) (2002): Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt. Paderborn: Schöningh.

Müller, Joachim; Sternweiler, Andreas (Hg.) (2000): Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen. Berlin: Verl. Rosa Winkel.

Pretzel, Andreas; Weiß, Volker (Hg.) (2010): Ohnmacht und Aufbegehren: Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik. Hamburg: Männerschwarm-Verl.

Schaefer, William (2009): Schicksale männlicher Opfer des § 175 StGB in Südbaden 1933-1945. In: Zeitschrift des Breisgauer Geschichtsvereins Schau-ins-Land 128, S. 145–170.

Zur Nieden, Susanne (2012): Der homosexuelle Staatsfeind, Zur Radikalisierung eines Feindbildes im NS. In: Insa Eschebach (Hg.): Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus. Berlin: Metropol-Verl. (Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 6), S. 23-34.