Forschungsprogramm

Wie haben schwule, lesbische, bi- und transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus‘, der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den 1950er und 1960er Jahren im südwestdeutschen Raum gelebt? Auf welche Weise wurden sie verfolgt und diskriminiert? Im Bereich der LSBTTIQ-Geschichte gibt es bisher nur wenig Forschung und erhebliche Forschungsdesiderate. Das Projekt soll die vielen offenen Fragen empirisch füllen und Grundlagen für die weitere Forschung legen.

Kontaktanzeige Badissche Friseurin, in Die Freundin 6.1 (1930)

Kontaktanzeige in der Freundin 6.1 (1930).

Gerade dadurch, dass der Fokus nicht allein auf homosexuellen Männern liegt, sondern dass auch  die Geschichte lesbischer Frauen, transsexueller, transgender und intersexueller Menschen untersucht wird, betritt das Projekt Neuland und wird eine wichtige Signalwirkung auf die bisherige Geschlechtergeschichte haben.

Das Projekt erforscht einerseits die Repressionen, denen Menschen jenseits der heterosexuellen und zweigeschlechtlichen Norm ausgesetzt waren: Polizeimaßnahmen und Überwachung, strafrechtliche Verfolgung, staatlicher Terror während des NS, Pathologisierung, soziale Ausgrenzung und rechtliche Diskriminierung. Aber auch Lebenswelten, Lebensweisen und Subkulturen von LSBTTIQ werden im Projekt erkundet: Wie lebten homo- und bisexuelle, transsexuelle, transgender und intersexuelle Menschen in Baden, Württemberg und Hohenzollern in der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik? Rechneten sie sich selbst solchen Identitäten zu? Wie gestaltete sich ihre Subkultur in der südwestdeutschen Provinz, welche Netzwerke und Solidarbeziehungen existierten? Wie positionierten sich LSBTTIQ zum nationalsozialistischen System und zur politischen und gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik?

Die Forschung soll nicht allein Verfolgung und Leid, sondern auch Alltag, Lebenswege und Subkulturen, Täter_innenschaft, Mitläufer_innentum, Verweigerung und Widerstand untersuchen. Wir gehen davon aus, dass LSBTTIQ in sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnissen lebten, unterschiedlichste Schicksale erfuhren und Entscheidungen trafen, die sich stark voneinander unterscheiden konnten.

Modul 1: Lebenswelten und Verfolgungsschicksale
homosexueller Männer

Haftanstalt Stuttgart, Zellenflur, StA Stuttgart, J 301 a, 263

Zellenflur der Haftanstalt Stuttgart in den 1960er Jahren. Quelle: StA Stuttgart, J 301 a 263.

Das erste Modul des Forschungsprojekts nimmt die Lebensrealitäten homosexueller Männer in den Blick: ihre Alltagserfahrungen, ihre Verfolgungsschicksale, ihre Positionen innerhalb einer ihnen feindlich gesonnenen Gesellschaft. Für zahlreiche Männer in Baden, Württemberg und Hohenzollern bedeutete die repressive NS-Politik Gefängnis, die Einweisung ins Konzentrationslager und allzu oft den Tod. Auch nach Ende der NS-Herrschaft wurden homosexuelle Männer weiter strafrechtlich verfolgt, diskriminiert und stigmatisiert. Wie die Männer Verfolgung und Repression erlebten und welche Strategien der Anpassung oder des Widerstands sie entwickelten, soll näher beleuchtet werden. Untersucht werden soll auch der Umgang des nahen Umfelds und der Gesellschaft mit männlichen Homosexuellen: Wie äußerten sich Ablehnung bis hin zur Denunziation, wo entstanden Solidarisierungen? Dieses Forschungsmodul wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördert.

Modul 2: Organisation und Institutionalisierung der Repression
und Verfolgung homosexueller Männer

Geschäftsverteilungsplan der Gestapo Stuttgart-001

Geschäftsverteilungsplan der Staatspolizei Stuttgart, Aufstellung des Referats IV 5 Sonderfälle, unter das auch die Verfolgung homosexueller Männer fiel. Verantwortlicher Kriminalkomissar war Walter Schurer. Quelle: StA LB K 100 Bü 9.

Während das erste Modul den Fokus auf homosexuelle Männer und deren Lebenswelten richtet, also auf die Opfer der Strafverfolgung und des NS-Terrors, wird sich das zweite Modul der Täterseite widmen. Hier wird untersucht, wie Justiz und Polizei die Verfolgung organisierten und durchführten. Das Projekt erforscht den Umgang der Justiz und der Polizei mit Homosexuellen, die Bedingungen der Haft und die Ermordung homosexueller Männer im Nationalsozialismus. Untersucht werden außerdem die Lebenswege der Täter: Wie verliefen ihre Karrieren vor oder nach dem Einsatz in der Homosexuellenverfolgung? Wurden sie entnazifiziert, und welche Lebenswege schlugen sie nach dem Krieg ein? Waren sie weiter in der Verfolgung von Homosexuellen tätig? Für die Zeit nach 1945 sind die ideellen, personellen und administrativen Kontinuitäten interessant, aber auch die Brüche, die sich durch das Ende des NS-Staats ergaben: Was änderte sich an der Strafverfolgung homosexueller Männer, was blieb bestehen? Dieses Forschungs-Modul ist derzeit noch in der Planungsphase.

Modul 3: Lesbische, bisexuelle, transsexuelle, transgender und intersexuelle Menschen im deutschen Südwesten

Wir Freundinnen, 1952

Zeitschrift Wir Freundinnen, Nr. 5 (1952).

Das dritte Modul geht davon aus, dass Repression nicht ausschließlich über den § 175 StGB ausgeübt wurde. Andere Formen der Unterdrückung trafen lesbische Frauen, bi- und transsexuelle, transgender und intersexuelle Menschen im NS und der frühen Bundesrepublik. Das Forschungsprojekt nimmt verschiedene, bisher kaum erforschte Formen der Diskriminierung von LBTTIQ in den Blick: etwa soziale Kontrolle, Stigmatisierung im nahen und weiteren Umfeld, ökonomische und rechtliche Diskriminierungen  sowie medizinische und psychiatrische Repressionen.

Zugleich ist es ein Anliegen des Forschungsprojekts, lesbische, bisexuelle, transsexuelle, transgender und intersexuelle Lebensweisen im deutschen Südwesten überhaupt sichtbar zu machen. Es scheint, als ob sie damals in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar waren. Das kann als Anzeichen von Diskriminierung verstanden werden. Es bedeutet nicht, dass lesbische, bi-, inter- und transsexuelle sowie transgender Menschen im heutigen Baden-Württemberg kaum aus dem Haus gingen und nirgendwo aneckten bzw. teilhatten. Wie sie jedoch gesellschaftlich platziert waren, ist genauso unbekannt wie die Antwort auf die Frage, in welchem Maße LBTTIQ im Südwesten in privaten Zirkeln oder auch in Vereinen, bei Festen, in Lokalen oder in Gruppen zusammenkamen. Das Projekt will dies erkunden. Es ist davon auszugehen, dass auch fernab der für ihre Subkulturen bekannten Metropolen ein vielfältiges Leben außerhalb der geschlechtlichen und sexuellen Normen existierte.

Wer nicht ausschließlich das jeweils andere Geschlecht begehrte oder wer nicht den strikten Vorgaben über Frauen oder Männer entsprach, konnte gesellschaftlich ausgegrenzt, benachteiligt und in der eigenen Existenz bedroht werden. So furchtbar die Verfolgung anhand des § 175 StGB war, war sie doch nicht das einzige Instrument, um rigide Normen durchzusetzen. Von einer Untersuchung, die entsprechend breit angelegt ist, verspricht sich das Projekt weitgehende Aufschlüsse über die Geschlechterordnung und damit über Grundlagen der Gesellschaft im NS und zu Beginn der Bundesrepublik. Dieses Forschungs-Modul ist derzeit noch in der Planungsphase.

nr, kp