Salon der Hundert in Tübingen

„Der Verein ‚Salon der Hundert‘ ist als ‚Der Club‘ eine Tübinger Institution geworden. […] Er ist eine Heimstätte für die Theaterleute aus dem Landes- und Zimmertheater. Er dient zur Kommunikation zwischen Studenten, zwischen Schauspielern und Studenten, zwischen bildenden Künstlern – Studenten – Theaterleuten. Durch die vierwöchig wechselnden Ausstellungen ist er Forum für vorwiegend junge unbekannte Künstler. Bezeichnend ist der Besuch Prominenter von Theater, Ballett u.a. Kommunikationsbereichen…“ (Antrag auf Sperrzeitverkürzung u. Gebührenbefreiung hierfür, 18.3.1973, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045).

Mit dem Ziel, einen alternativen Ort der Begegnung und Kultur zu schaffen, hatte sich 1969 in Tübingen der Verein Salon der Hundert gegründet. Dessen gleichnamiger Club existierte bis 1977, war weit über Tübingen hinaus bekannt und ist vielen heute noch gut in Erinnerung. Die Clubräume lagen im ersten Stock eines Altbaus am Rande der Tübinger Altstadt. Zugang zum Salon der Hundert hatten ausschließlich „Vereinsmitglieder und deren Gäste“ (Satzung Salon der Hundert e.V., 14.7.1969, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045), die, da der Ausschank nicht gewerblich war, bis in die Morgenstunden bleiben konnten.

Hausfassade Salon der Hundert (neben Gasthof Traube), Obere Neckarhalde 16, Aufnahmedatum: Februar 1960, Quelle: Stadtarchiv Tübingen

Hatten sich Besucher_innen erst einmal an der Haustüre durch ein Klingelzeichen bemerkbar gemacht, und wurde ihnen dann auch geöffnet, tat sich hinter der unscheinbaren Hausfassade eine andere Welt auf: „Zu dem Schankraum gelangt man durch einen 4 m langen, mit Gold-, Gelb- und Silberfolie ausgeschlagenen Hausflur und eine mit rotem Teppich belegte Treppe. Man betritt den Raum über eine mit Reisstrohmatten belegte Fläche, die am Ende der sich links befindlichen Bar aufhört. Das Ende des Bartisches stellt gleichzeitig die Grenze dar zu dem 4 x 4 m großen Raum. Dieser ist ganz ausgelegt mit einem großen, ungemein weichen roten Bodenteppich. In der Mitte des Bohemiensaales liegt auf dem Boden eine große mit Wasser gefüllte Glasschale, in der je nach Saison Blumengebinde eingesteckt sind (z. Zt. Seerosen). Rings um das ausgelegte Blumenarrangement sind zwei große Felle, ein orientalisches Sitzkissen und zwei Korbstühle als Sitzgelegenheit für die Gäste vorhanden. Vorhanden sind auch zwei Fenster zur Neckarfront und eines schräg zum Gasthof Traube.“ (Bericht einer Begehung des Tübinger Bauordnungsamtes vom 10.7.1969, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045). Nach einem Brand 1971 bezog der Verein Räume im unweit gelegenen Wienergäßle 2.

Ziele des Vereins Salon der Hundert waren „die Förderung junger Künstler und die Auseinandersetzung mit moderner Kunst; er will durch wechselnde Ausstellungen, durch Dichterlesungen, Diskussionen, Musikabende und ähnliche Veranstaltungen vor allem jungen Talenten die Gelegenheit geben, ihre Werke zur Diskussion zu stellen.“ (Satzung Salon der Hundert e.V., 14.7.1969, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045). Ob vor allem nur männliche Künstler gefördert wurden, wissen wir nicht. 1973 zählte der Verein 100 Mitglieder. 20 bis 30 von ihnen waren während der Clubtage von Dienstag bis Sonntag in den Räumen anwesend (Antrag auf Sperrzeitverkürzung u. Gebührenbefreiung hierfür, 18.3.1973, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045).

Seele des „Clubs“, wie die Vereinsräume des Salons der Hundert genannt wurden, war Lilli Schönemann (1941-2015). Den meisten Gästen war sie nur als „Jeanne“ bekannt. Im Salon der Hundert, aber auch außerhalb des Clubs war Jeanne nur in Schwarz gekleidet, hatte schwarz gefärbte Haare, und als Kontrast dazu ein hell gepudertes Gesicht mit rot geschminkten Lippen. Vermutlich waren es Anleihen an den Stil der französischen Sängerin Juliette Greco (*1927). Deren strikt schwarzes Outfit war ein Bekenntnis zur (Nicht-)Farbe der Existenzialist_innen, und deren Chansons wurden oft im Club gespielt. Andere erinnerte Jeannes Auftreten an die deutsche Schriftstellerin Gisela Elsner (1937-1992), die wie Juliette Greco für ihren nonkonformistischen Lebensstil geschätzt wurde. Auf die Tübinger Behörden wirkte Jeannes Erscheinung befremdlich: am Rande eines Blattes aus der Gaststättenakte findet sich bei Lilli Schönemanns Namen der handschriftliche Vermerk „Fledermaus“ (Stadtarchiv Tübingen, A540/0045).

Vom Anfang bis zur Einstellung des Clubbetriebs 1977 war Jeanne als prägende Figur verantwortlich für die ungewöhnliche Einrichtung der Räume, das künstlerische Programm und die Musikauswahl. Jeanne war auch diejenige, die darüber entschied, welche_r Freund_in eines Mitgliedes eingelassen wurde und welche_r nicht. 1991 wurde der Salon der Hundert auch literarisch verarbeitet. Manche Männer, gewohnt im Mittelpunkt zu stehen, kritisierten die Einlasspolitik von Jeanne: „Im Salon der Hundert herrschte schwarze Kleidung vor. Meist liefen Platten von Juliette Greco, und Jeanne, die Besitzerin des Clubs, war noch schwärzer als alle Besucher zusammen. […] Giovanni schrieb inzwischen Konzertkritiken für die Zeitung. […] Möglicherweise hatte ihm dieser Umstand erst den Einlass in den Club beschert, denn eigentlich musste man, um Mitglied zu sein, schwul, reich, schwarz gekleidet oder irgendwie bekannt sein. Oder befreundet mit einem, der diese Kriterien erst erfüllte.“ (Leseprobe aus: Thommie Bayer, Das Herz ist eine miese Gegend, o.S.)

Obwohl Jeanne eine öffentliche Person in Tübingen war, ist über sie selbst bislang nur wenig bekannt. Ihr Privatleben hielt sie geschützt. Laut Meldekarte der Stadt Tübingen war sie kurze Zeit mit einem Griechen verheiratet (Hinweis von Udo Rauch, Stadtarchiv Tübingen, 5.8.2016). Geliebt haben soll sie aber Männer und Frauen: „Jeanne war bisexuell, aber ihre Beziehungen hat man nicht mitbekommen“ (mündliche Aussage gegenüber Autor von D.K., 13.1.2017). In der Gaststättenakte des Stadtarchivs Tübingen wird Jeanne 1969 als „bekannte Künstlerin“ bezeichnet, als ihr Beruf ist „Grafikerin“ angegeben (Stadtarchiv Tübingen, A540/0045). Nach der Schließung des Salons der Hundert 1977 soll sie in der Modebranche in Stuttgart tätig gewesen sein (Hinweis von Helmut Kress, 16.2.2017).

Der Salon der Hundert wurde unter der Leitung von Jeanne zum Anlaufpunkt für ganz unterschiedliche, auch nicht heterosexuelle Menschen, die einen Gegenentwurf zu den herkömmlichen Lokalen suchten. Die bunte Mischung der Mitglieder und Gäste war eine Attraktion. Der ‚Club‘ blieb oft bis 4 Uhr morgens geöffnet, denn „es braucht nicht betont zu werden, dass Kommunikation […] nicht zeitlich zu begrenzen ist. Hinzu kommt, daß Theaterleute oft erst nach 1.00 nach Abstechern, Proben, Nachgesprächen, Essen in den ‚Club‘ kommen können.“ (Antrag auf Sperrzeitverkürzung u. Gebührenbefreiung hierfür, 18.3.1973, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045) „Die Clubräume waren an beiden Adressen klein. Spät am Abend bzw. am frühen Morgen kam man nicht mehr hinein, so voll war es dort. Das Publikum war jung, gemischt und sehr interessant. Da konnte man sich sehr gut unterhalten.“ (Hinweis von H.H., 5.8.2016) Eine Zeitzeugin berichtet, sie sei zum ersten Mal hingegangen, um zu testen, ob sie vielleicht lesbisch sei, habe aber dann dort einen Mann kennengelernt, mit dem sie eine lange Beziehung hatte. (Hinweis von D.K., 13.1.2017). Auch die Gründung der Initiative Homosexualität Tübingen (IHT) wurde im Salon der Hundert beschlossen (Hinweis von K.H., 5.1.2017). Zu den prominenten Gästen gehörten die Jazz-Sängerin Inge Brandenburg (1929-1999), die Tänzerin Márcia Haydée (*1937) vom Stuttgarter Ballett oder der damalige Leiter des Tübinger Zimmertheaters, Salvatore Poddine (Antrag auf Sperrzeitverkürzung u. Gebührenbefreiung hierfür, 18.3.1973, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045). Für den Tübinger Helmut Kress war der Club „ein einziges Abenteuer. Und des war ´n lustiges Lokal, weil es gab keine Tische, keine Stühle damals, sondern nur ein großer Raum mit Teppich ausgelegt und viele, viele Sitzkissen. Und da es ein Privat-Club war, durften die auch keine Preise verlangen, sondern da war ein Kühlschrank, da waren so Bierflaschen drin, Weinflaschen drin, und daneben war so ´n kleiner Tresen, da stand großer Korb: ‚Bitte Spenden`‘. Und da hat man sich ein Bier rausgenommen, hat da halt das, was man gerade hatte, reingeworfen, weil sie durften keinen festen Preis verlangen. Weil sie ja keine Gastronomie in dem Sinne waren, sondern Privat-Club. Und naja, Privat-Club und die Zeit, da liefen halt dann auch so die Zigarettchen im Kreis, des war halt damals so in. Und da hat man natürlich auch mitgeraucht, ja, also nie starke Drogen oder so, aber so bissel Zigarettchen, ja.“ (Helmut Kress (0031/BMH/0031), Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, 22. Oktober 2016 (Berlin).1

1972 brachten die Aussagen des jungen Tübingers Hans-Peter Konieczny den Salon der Hundert ins Visier des Staatsschutzes und machte den Club bundesweit bekannt. Der Schriftsetzer hatte für kurze Zeit für die Baader-Meinhof-Gruppe Dokumente gefälscht und als Bote fungiert und war dann wieder ausgestiegen. Nach seinen Aussagen war er von einem Tübinger Rechtsanwalt angeworben worden, der das erste Gespräch mit ihm im Salon der Hundert führte. Dem Aussteiger war der Ort suspekt, denn „dort trieben sich damals so exzentrische Spinner herum“ wie es in seinem im Magazin Spiegel veröffentlichten Interview über den Salon der Hundert heißt („Paß auf, hier hat´s ´ne Menge Bullen“, Spiegel, 9.10.1972, S.38).

Bei den Tübinger Behörden hatte der Salon der Hundert einen schlechten Ruf. Die Polizei vermutete auch nach 1973 Sympatisant_innen der Roten Armee Fraktion unter den Gästen, das Ordnungsamt sprach von einem „Etablissement“ (Stadtarchiv Tübingen, A540/0045) und die Nachbarschaft beschwerte sich häufig über Nachtruhestörungen (Hinweis von Udo Rauch, 5.8.2016). Der Salon der Hundert wurde mehrfach kontrolliert.

Jeanne trotzte Kontrollen und versuchte, ihre Gäste zu schützen: „Das im Betreff genannte Lokal sollte am 26.01.1977 gegen 23.40 Uhr kontrolliert werden. Die mit der Kontrolle Beauftragten wurden zwar von Frau Schönemann in den Vorraum eingelassen. Dort erklärte dann Frau Schönemann, daß sie niemand in die Geschäftsräume hineinlassen würde, da wohl keiner von den Herrn einen Vereinsausweis besitze. Frau Schönemann wurde vom Unterzeichner darauf hingewiesen, daß sie verpflichtet sei, berechtigte Personen in die Geschäftsräume zwecks Kontrolle einzulassen. Frau Schönemann erwiderte darufhin, daß bisher Kontrollen tagsüber durchgeführt worden wären und sie deshalb nicht einsehe, daß in den Nachtstunden kontrolliert wird. Außerdem könne sie uns nicht einlassen, da die Vereinssatzung vorschreibe, daß nur Mitglieder berechtigt wären, die Räume des Clubs zu betreten. Daraufhin wurde Frau Schönemann vom Unterzeichner nochmals aufgefordert, den Zugang zu ihrem Lokal freizugeben. Da sie sich daraufhin erneut weigerte, wurde sie darauf aufmerksam gemacht, daß gegen sie eine Ordnungswidrigkeitsanzeige erstattet werden muß. Frau Schönemann erklärte, daß ihr dieses überhaupt nichts ausmache, und die Herren sollten ’nur tun, was sie für richtig halten‘.“ (Aktennotiz Kripo und WKD Tübingen vom 26.1.1977, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045). Offenbar wurde in dieser Nacht von einer Kontrolle abgesehen, jedoch erhärtete sich offenbar der Verdacht, dass im Club Rauschgiftmissbrauch vorliege. Die Notiz schließt mit der Bemerkung: „Das Lokal wird deshalb in den nächsten Tagen vom Rauschgiftdezernat einer eingehenden Kontrolle unterzogen.“ (Aktennotiz Kripo und WKD Tübingen vom 26.1.1977, Stadtarchiv Tübingen, A540/0045).

Der Salon der Hundert stellte 1977 alle seine Aktivitäten ein. Ob die Schließung der Clubräume und die Auflösung des Vereins auf Betreiben der Tübinger Behörden erfolgten, ist bislang nicht bekannt. Vor ihrem Tod im Jahr 2015 traf man „die schwarze Jeanne“ in Tübingen in weißer Kleidung an. Ihrem Stil blieb Jeanne jahrzehntelang treu.

khs

1Durchführung des Interviews: Karl-Heinz Steinle und Benjamin Bayer. Transkription und Erschließung: Janina Rieck. Bei den im Text erwähnten „Zigarerettchen“ handelt es sich um Cannabis, das Helmut Kress dort geraucht hat